Prof. John-Dylan Hynes, Neues zum Leib-Seele-Problem

16.07.2021 19:11
#1
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https://hpd.de/artikel/laut-umfragen-sin...dualisten-19466

Auszug aus dem Interview:

Zum Schluss würde ich Ihnen gern eine persönliche Frage stellen: Was glauben Sie, wird mit Ihrem "Ich" passieren, wenn Ihr Körper irgendwann – Achtung Wortwitz – den Geist aufgibt?

(lacht) Sehr schöne Formulierung! Also ich denke, die Wissenschaft hat über das, was im Bereich der Messbarkeit der Wissenschaft liegt, Jurisdiktion. Alles andere ist das Reich des Glaubens, der Hoffnung und der Fantasie. Ich möchte Menschen nicht ihre Fantasie nehmen, muss aber klar sagen, wenn etwas ins Reich der Fantasie gehört. Im Hier und Jetzt, bei allem, was wir messen können, hängen der menschliche Geist und das menschliche Gehirn nach allem, was wir wissen, eins zu eins zusammen. Das heißt, ich würde es für eine sehr plausible Hypothese halten, dass, wenn der menschliche Körper, das menschliche Gehirn stirbt und seine Integrität aufgibt, dass dann unser Erleben, unser Geist für immer aufhört zu existieren. Das ist eine plausible Hypothese, aber andere Menschen finden vielleicht andere Dinge plausibel. Denn sie haben vielleicht andere Gründe, warum sie etwas glauben. Ihnen ist es vielleicht wichtig, dass es sich gut anfühlt. Wenn jemand sagt, das fühlt sich für mich richtig an, etwas anderes zu glauben als die Naturwissenschaft nahelegt, kommt man nicht dagegen an, egal was man sagt. Ich halte es auch für unfruchtbar, dagegen an zu argumentieren.


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22.07.2021 07:32
#2
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Freier Wille, Neurowissenschaft, Stand des Wissens über das Denken

Podcast-Gespräch • John-Dylan Haynes – Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann

https://podcast.kortizes.de/john-dylan-haynes-fenster-ins-gehirn-wie-unsere-gedanken-entstehen-und-wie-man-sie-lesen-kann-helmut-fink-im-gespraech-mit-john-dylan-haynes/

Moderne Verfahren erlauben es heute, durch bildgebende Verfahren die Hirnaktivität sichtbar zu machen und bestimmte Aktivitätsmuster einzelnen Gedanken zuzuordnen. Kann man also bald unsere geheimsten Wünsche und Empfindungen auslesen oder sogar manipulieren? Werden neuartige Lügendetektoren bei der Überführung von Straftätern helfen? Und lässt sich das Bewusstsein eines Menschen über den Tod hinaus auf einer Festplatte speichern?

Die Fortschritte der Hirnforschung befeuern Zukunftsvisionen und Sorgen gleichermaßen. Mit beidem setzt sich der Psychologe und Hirnforscher John-Dylan Haynes von der Berliner Charité auseinander. Im Gespräch mit Helmut Fink gibt Haynes einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, diskutiert die Grenzen des Machbaren und warnt vor überzogenen Versprechungen.


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24.07.2021 01:41 (zuletzt bearbeitet: 24.07.2021 13:38)
#3
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Während ich nach dem Lesen des Artikels von Metzinger nicht mehr viel von dem wusste, was er sagen wollte (außer dem, was ich schon vorher ahnte, und dass er vegan lebt), fühlte ich mich nach dem über einstündigen Interview mit John-Dylan Hynes über den neueren technischen Stand der Hirnforschung besser informiert als vorher. Allerdings gab er gleich zu Anfang zu erkennen, wie sehr auch er von bestimmten Anschauungen vorbesetzt ist, nämlich sein praktischer Ausschluss radioaktiver Tracer in der Hirnforschung aus offenbar grundsätzlichen Gründen. Aber das kann man bei keinem noch so seriösen Wissenschaftler ausschließen.

Zu Hynes‘ Aussagen: Nein, wir müssen uns, zumindest auf absehbare Zeit, keine Sorgen machen über Möglichkeiten unser Hirn, unser Denken und unsere Gefühle von außen technisch manipulierbar zu machen. Solche Manipulationen funktionieren auf andere Weise bekanntlich sehr gut, und auch wissenschaftlich sind psychologische Methoden effektiver um in unser Denken und Fühlen einzudringen. Lügendetektoren u.dgl. hält Hynes nicht für seriöse Geräte, auch wenn sie viele Jahrzehnte zumindest in der amerikanischen Justiz benutzt wurden (werden?). Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Arm eines Gelähmten durch bloßes Denken definierte Bewegungen ausführen kann.

Als wesentlicher Punkt wurde von Hynes herausgearbeitet, dass der Dualismus von Geist und Gehirn, der in der abendländischen Kultur tief verankert ist, aufgegeben werden muss. Insbesondere das viel zitierte Experiment des Neurophysiologen Benjamin Libet aus den 1980ern ist nach Experimenten von Haynes (2015) kein Beleg für einen strengen Determinismus, m.a.W., die Existenz eines freien Willens wurde dadurch nicht widerlegt.

Grundsätzliches über den Dualismus habe ich deshalb noch einmal bei Karl Popper nachgelesen in seiner Essay-Sammlung Alle Menschen sind Philosophen, wo es unter der Überschrift „Das Leib-Seele-Problem“ steht. Es ist zwar auf dem Forschungstand der frühen 70er Jahre, aber seine Argumentation kann wohl immer noch Gültigkeit beanspruchen zumindest in dem Rahmen, den er mit seinem Drei-Welten-Modell gesteckt hat. Er fragt, „ob und wie unsere Denkvorgänge in der Welt 2 [die Welt des Geistes und der Emotionen] mit Gehirnvorgängen in der [physischen] Welt 1 verbunden sind“. Sein favorisierter Lösungsversuch der Frage ist die „Psychophysische Wechselwirkung“: Beispielsweise beim Lesen eines Buches entstehen Gehirnvorgänge, die auf die Welt 2 des Lesers wirken. Umgekehrt gibt es keine Denkvorgänge in der Welt 2 ohne irgendwelche Gehirnvorgänge in der Welt 1. Popper bietet damit aber keine Lösung des Leib-Seele-Problems an; denn er weiß nicht wie das Gehirn und das Bewusstsein aufeinander einwirken. Popper betont gleichwohl die Existenz dreier teilweise autonomer [!], aber in Wechselwirkung stehender „Welten“.

Seine Theorie ist natürlich ein Denkmodell. Vielleicht war ja die „Seele“ auch ein Denkmodell der Antike, das sich vor allem im christlichen Glauben komplett verselbständigt hat bis hin zur Unsterblichkeit. Man hat irgendwann, wohl sehr bald, schlicht vergessen, dass die Existenz von „Seele“ oder „Gott“ als Hypothese aufgestellt wurde beim Versuch, mehr von der Wirklichkeit zu verstehen, aber es waren und sind Produkte menschlichen Denkens. Das hat übrigens der fromme Angelus Silesius schon im 17. Jahrh. formuliert - möglicherweise ohne die Tragweite zu ahnen: "Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben". Für mich war dieser Satz ein Anstoß, religiöse Lehren ad acta zu legen.

Das Gehirn und die Vorgänge darin sind offen für die Erforschung, und dafür wird man immer vereinfachende Modelle brauchen; denn eine detaillierte mechanistische Erklärung dürfte sich aus denselben Gründen ausschließen wie eine Erklärung des Universums.


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25.07.2021 16:56
#4
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Direkt zu Franz Michael:
Mit Deinen Aussagen zum Modellcharakter von Seele kann ich sehr gut mitgehen. Für mich ist es eine versöhnliche Aussage, anschlussfähig und diskutabel.
Aktuell hänge ich der Überlegung nach, ob wir nicht noch viel mehr solcher versöhnlichen, anschlussfähigen und diskutablen Aussagen benötigen. Mir kommen viele Begriffe in den Sinn: Religion, Bekenntnis, Spiritualität aber auch Humanismus.
Wie komme ich gerade darauf?
Ich habe bei Wikipedia den Eintrag "Drei-Welten-Lehre" gelesen und darin den Bezug zum Text von Axel Montenbruck "Demokratischer Präambel–
Humanismus - Westliche Zivilreligion und universelle Triade 'Natur, Seele und Vernunft'". Was hat Humanismus mit "Zivilreligion" zu tun? Wie so häufig lehne ich es für ab, diese "Zumutung" einfach nur so abzulehnen, ich möchte es doch verstehen, wieso Menschen zu solchen Begriffen kommen.


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26.07.2021 12:21
avatar  Uhu
#5
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Uhu

Direkt zu Holger: Dein Verweis auf den (mir bisher unbekannten) Berliner Rechtsphilosophen Montenbruck hat mich neugierig - und dann sehr ratlos gemacht: eine Art zu argumentieren, die juristische wohl, die mir völlig fremd ist. Beachtlich immerhin, dass seine wichtigsten Veröffentlichungen im FU-Server frei zugänglich sind. Lohnt es sich vielleicht doch, tiefer in diese Argumentation einzudringen?
In Kennzeichnungen wie "Präambel-Humanismus" und "Zivilreligion" lese ich etwas wie eine ironische Distanzierung - oder ist das ein ganz falscher Eindruck? (Zuerst wollte ich schreiben: Klingt wie "chinesisch" für mich - worin immerhin ein wichtiger Hinweis steckt: Aus der Sicht des neuen China sind die beiden Kennzeichnungen sicher treffend; es wäre m.E. wichtig sich auch damit einmal auseinanderzusetzen.)


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26.07.2021 18:02 (zuletzt bearbeitet: 26.07.2021 18:02)
#6
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Direkt zu Uhus Antwort:
Ja, geht mir ebenso, dass ich die Argumentation von Axel Montenbruck beim ersten Lesen sehr ungewöhnlich fand. Auch beim zweiten Lesen wird es nicht viel besser. Ich habe es mir bisher so zusammengereimt, dass A. Montenbruck unausgesprochen davon ausgeht, dass jeder Mensch sich zu etwas bekennen kann resp. muss, also ein eigenes "Credo" ausformt. Und dieser Umstand lässt ihn recht unbesorgt den Begriff "Zivilreligion" nutzen.
Aber keine Sorge, ich habe nicht weiter vor, tiefer bei diesem Autor ein zusteigen.


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