Anmerkungen zum Prozess der Wirklichkeitserkenntnis

17.07.2021 22:53 (zuletzt bearbeitet: 17.07.2021 22:58)
#1
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Fritz Bopp, Schüler von Sommerfeld, begann 1969 seine Vorlesung in theoretischer Physik mit Anmerkungen zum Prozess der Wirklichkeitserkenntnis, woraus ich referiere. Da ich davon ausgehe, dass es den Philosophen letztlich auch um Erkenntnis von Wirklichkeit geht, ist hier wohl eine Gemeinsamkeit, die ich aber nur von der naturwissenschaftlichen Seite aus ausführen kann.

Prinzipien und Erfahrung
Zu Erkenntnis führt i.a. eine Reihe von logischen Schritten, die ihren Ausgang bei Prinzipien haben. Diese Prinzipien müssen aber erst einmal aufgefunden und auf ihre Gültigkeit geprüft werden; denn sie sind nicht evident, wie man in alter Zeit glaubte, und somit keine Beweisgründe. Das in den Naturwissenschaften akzeptierte Kriterium heißt Erfahrung. Das bedeutet insbesondere, handelnd zu prüfen, ob eine aus den Prinzipien abgeleitete Voraussage eintritt. Jede neue Prüfung kann Grenzen der Gültigkeit der Prinzipien aufzeigen. Da dadurch alte Erfahrungen nicht erschüttert werden, müssen die neuen Prinzipien die alten umschließen. Diese Forderung ist der Philosophie weitgehend unbekannt, während es in den „Wirklichkeitswissenschaften“ ein stetes Fortschreiten gibt, wodurch wir immer weitere Bereiche der Wirklichkeitsordnung begreifen können.

Vorstellungen sind zunächst nicht unmittelbar von außen geprägt. Es sind Bilder in uns, welche als Theorie in Worte gefasst werden [woraus allzu oft irrwitzige Systeme bereitet wurden]. Diese Vorstellungen ermöglichen jedoch Voraussagen, die an der Wirklichkeit durch aktives Handeln geprüft werden können. Die Ergebnisse werden mit unseren Vorstellungen verglichen und diese ggf. korrigiert, also ein Kreisprozess. Wir sind somit mit der Wirklichkeit zweifach verbunden, nämlich durch unsere Sinne und durch unsere Fähigkeit zu handeln. Die Vorstellungen sind keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern zunächst Produkte unserer Einbildungskraft, im besten Fall Bilder einer Wirklichkeitsordnung, die unser Geist aus unterschiedlichen Wahrnehmungen erzeugt.

Die Rolle der Logik
Beim Erkennen der Wirklichkeit kommt der Logik eine entscheidende Rolle zu. Logisches Denken ist eine entscheidende Voraussetzung für das Überleben der Menschheit, und selbstverständlich wenden auch alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen logisches Denken an. Doch logisches Schließen geht von Prinzipien aus, die i.a. Ergebnisse eines mühevollen Erkenntnisprozesses sind [sein sollten!]. Sind die Vorstellungen phantastisch, so gilt dies auch für die Prinzipien und alles, was wir mit scheinbar großer Sicherheit logisch erschließen – aber es sind nur Spekulationen.

Der Physiker muss, um die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen, seine Vorstellungen mathematisieren. Das setzt u.a. Präzisierung, Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit voraus. Die Logik allein erhöht jedoch nicht die Glaubwürdigkeit der Prinzipien; letztere beruht allein auf den mannigfachen Folgerungen, welche eine Erprobung der Prinzipien ermöglichen. Ein einziger Widerspruch genügt, um die Gültigkeit der Prinzipien in Frage zu stellen – hier spielt die Sicherheit logischen Schließens tatsächlich eine entscheidende Rolle. [Eine Mathematisierung scheint mir bei den meisten Philosophen kaum möglich. Es gab aber Versuche einer formal-logischen Mathematisierung von Kants Prolegomena].

Anerkennung der Wirklichkeit
Das Erkennen der Wirklichkeit hat eine wesentliche Voraussetzung: Sie muss anerkannt werden. Nur so kann sie zum Gegenstand der Forschung werden. Von Parmenides bis Heidegger und Sartre scheint jedoch immer wieder ein gegenteiliges Prinzip angewandt worden zu sein: „Denken und des Gedankens Gegenstand [die Wirklichkeit] sind das Nämliche.“ Das Gegenteil ist richtig, wie ein Blick auf den Erkenntnisprozess zeigt. Der Wirklichkeit begegnen wir auf allen Stufen nur im Handeln. Der Unterschied zwischen herkömmlichen Philosophien und der naturwissenschaftlichen Art zu philosophieren beruht also auf einer veränderten Einstellung zur Wirklichkeit.


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18.07.2021 14:35
#2
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Ich kann den Ausführungen von Franz Michael nur zustimmen. Der letzte Absatz ist ein bekennendes Plädoyer gegen den (noch immer modischen) philosophischen Anti-Realismus, das ich sehr begrüße. Wenn Philosophie relevant für unser Leben sein soll, darf sie die Wirklichkeit nicht aus den Augen verlieren.


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20.07.2021 19:02
avatar  Uhu
#3
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Uhu

Das sind ja starke Stücke, die hier von mehreren Seiten einflattern, um das nächste Treffen vorzubereiten! Urlaubs- und Altersfaulheit machen es mir schwer, angemessen darauf einzugehen, aber gerne schließe ich mich der Spitze von Franz und Klaus-Peter gegen die Anti-Realisten an. (Querdenker Nietzsche ist hier m.E. einer der charmantesten und folgenreichsten Verführer.) Die wiedergegebenen Gedanken von Prof. Bopp wirken klar und nachvollziehbar, ich frage mich allerdings, ob seine Weggefährten Heisenberg und v. Weizsäcker allem zugestimmt hätten. Oder gar der Quantenpraktiker Zeilinger in Wien?
Und dann die „Wirklichkeitswissenschaften“ - von Franz immerhin in Anführungszeichen gesetzt!
Mir ist der Ausdruck erst kürzlich beim sehr geschätzten Wolfram aufgefallen und, ich kann mir nicht helfen, er klingt mir zu ideologisch, so als wollte man sich absetzen von den „Quasselwissenschaften“. (Vielleicht ja völlig ungerechtfertig; eben schaue ich nach in Wikipedia: Ja, es gibt einen kurzen Eintrag dazu! Allerdings wird da jemand zitiert, der die Staatswissenschaft für die wahre Wirklichkeitswissenschaft hält, ausgerechnet ...) Wie wäre es mit "Erfahrungswissenschaften"?

Und wo stecken wir da Herrn Nida-Rümelin hin? Ein fruchtbarer Beitrag von Holger, finde ich, bin noch nicht durch damit, freue mich aber über die Rede von unserer „Lebenswelt“, die einbezogen werden soll. (Kleines Verwundern im Anfangsteil: „Weiβ“ ich, dass unsere Erde um die Sonne kreist? Nein, ich glaube nur zu wissen, dass dies für uns z.Z. die einfachste Beschreibung ist. Wie geht es euch damit?)

Und nun noch unser Freund Metzinger: Was ist bei ihm (nur) Modell und was wirklich „wirklich“? Da verheddert es sich in mir. Die Anfangsbetrachtung über den Fischfang hat mich angesprochen. Immer noch werden Singvögel in aller Welt auf ähnliche Weise in Netze getrieben. Das finden wir inzwischen empörend. Aber noch esse ich Fisch...
Und dann die bewundernswert durchdeklinierte Leidensethik – nein, da steige ich aus. Für mich führt Metzinger das Prinzip der Leidensminimierung ad absurdum. Ein paar gut platzierte Wasserstoffbomben über die Erdoberfläche verteilt – und kein Wesen hätte mehr zu leiden. (Der alte Buddha wusste, warum er die überlieferte Seelenwanderungs- und Karmalehre nicht antastete; nur so konnte er seine Jünger hindern, scharenweise Selbstmord zu begehen.) Viel realistischer (!) erscheint mir, das Wohlergehen ('flourishing') unserer Spezies in den Mittelpunkt zu stellen, mit-fühlsam erweitert auf alle anderen Kreaturen. Die Erfahrungswissenschaften liefern uns jede Menge Hinweise, wie sehr sie zu unserem Wohlergehen beitragen.


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21.07.2021 23:27 (zuletzt bearbeitet: 22.07.2021 01:39)
#4
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Die Anführungszeichen bei "Wirklichkeitswissenschaften" hat nicht Bopp gesetzt sondern ich, weil mir das Wort zunächst nicht gefiel. Sozial- oder Geschichtswissenschaften sind schließlich auch eng mit der Wirklichkeit verbunden und darüber hinaus mit der Erfahrung - und deshalb gefiel mir Erfahrung als ausschließliches Privileg der Naturwissenschaften auch nicht. Aber Bopp meinte offenbar die Art der Verbindung zur Wirklichkeit: Die Naturwissenschaftler machen gezielte Experimente und bekommen Rückmeldung von der Wirklichkeit. Den Kommunismus könnte man zwar auch als Experiment bezeichnen, aber der Unterschied dürfte klar sein.

Anton Zeilinger, den ich seit Jahrzehnten privat kenne, steht keinesfalls im Verdacht, die Wirklichkeit nicht anzuerkennen. Die Quantenwelt liegt zwar außerhalb von unserer Alltagserfahrung, aber messtechnisch ist sie gut zugänglich; Mathematisierung zusammen mit Logik liefern z. T. eine reproduzierbare Genauigkeit von 10 Stellen nach dem Komma. Zeilinger hat die Quantenmechanik einfach gut verstanden und lotet sie tief aus. Die Quantentheorie hat sich als Beschreibung der Wirklichkeit unglaublich gut bestätigt.

Das war zunächst nicht so bei der sog. Kopernikanischen Wende: Kopernikus' Voraussagen erwiesen sich quantitativ als mehr oder weniger falsch, weil sich die Planeten nicht auf Kreisbahnen, sondern auf Ellipsen um die Sonne bewegen. Die unwiderrufbare Wende wurde erst in einem zweiten Schritt durch Kepler vollzogen, dessen Vorhersagen präzise waren. Eine wesentliche Bedeutung hatte dabei die Ent­deckung des Fernrohrs durch Galilei (und des Keplerschen Fernrohrs) in Form des Nachweises, dass mit künstlichen Instrumenten Dinge und Vorgänge in der Natur aufgefunden werden können, von welchen der Mensch ohne diese nichts wissen kann, weil sie seinen Sinnen nicht wahrnehmbar sind (Walter Gerlach). Nicht anders verhält es sich mit den Instrumenten, die heutigen Physikern wie Zeilinger zur Verfügung stehen. Das Kopernikanische Bild von der Planetenbewegung war trotzdem ein entscheidender Schritt. Kepler wiederum kam nicht auf das richtige Gesetz der Gravitation, hatte es schon in Händen (das 1/r²- Gesetz) und verwarf es wieder, wohl auch wegen der damals noch nicht ausreichend entwickelten Mathematik, aber auch deshalb, weil Kepler eigentlich keine physikalischen Gesetze postulierte und prüfte, sondern letztlich "nur" Messdaten auswertete und mathematisch beschrieb. Das Gravitationsgesetz entdeckte erst Newton, gleichzeitig entwickelte Leibnitz die Infinitesimalrechnung. Überhaupt musste vielfach die Mathematik erst voran gebracht werden als Voraussetzung für die weitere Einsicht in die Wirklichkeit, so z. B. Heisenberg mit dem Matrizen-Formalismus. Man sieht, dass die Mathematik bei der Wirklichkeitserkenntnis eine ganz besondere Rolle einnimmt. Sie erscheint beinahe losgelöst von den Erfahrungswissenschaften und tatsächlich setzt sie wohl nur die Existenz der natürlichen Zahlen voraus (so wie die Logik die Mengenlehre und umgekehrt). Aber sie führt zu richtigen Vorhersagen über wirkliche Vorgänge, was man von der Philosophie nicht sagen kann.

Wozu die Wirklichkeitswissenschaften offenbar nichts sagen können, ist die "Menschliche Situation", nichts zum Leib-Seele Problem oder Ethik. Die Welt der physischen Vorgänge ist nach Popper ja nur die Welt 1. Die psychischen Vorgänge gehören seiner "Welt 2" an, und dazu definiert er noch eine "Welt 3", das ist die Welt der Produkte des menschlichen Geistes, insbes. der wissenschaftlichen Probleme einschließlich der Mathematik und der Philosophie. Die verschiedenen Welten wechselwirken aber miteinander. Von hier aus könnten wir uns wieder dem Thema zuwenden: Wissenschaft und Philosophie - wie sehen die Wechselwirkungen aus?


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30.07.2021 02:03
#5
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Franz Michael schreibt: „Die Quantentheorie hat sich als Beschreibung der Wirklichkeit unglaublich gut bestätigt.“ Nicht nur darin aber vor allem darin muss ich ihn unterstützen: Die Quantentheorie beschreibt die Wirklichkeit ganz ausgezeichnet. Sie stellt – entgegen einem leider weitverbreiteten Missverständnis unter Philosophen und leider auch vielen philosophierenden Physikern, die Heisenberg und andere Begründer der Quantentheorie missverstanden haben - die Existenz einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit NICHT in Frage; sie lehrt uns stattdessen, dass diese Wirklichkeit andere Eigenschaften hat als die von uns auf Grund unserer Erfahrungen mit dem „Mesokosmos“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Mesokosmos ) zunächst vermuteten („klassischen“) Eigenschaften.

Entsprechendes gilt für die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie.

Glänzende Paradebeispiele für die grundsätzliche Dogmenfreiheit der Naturwissenschaften. Dem steht nicht entgegen, dass es leider auch dogmatisch denkende Naturwissenschaftler gibt.


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30.07.2021 12:58
avatar  Uhu
#6
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Uhu

Lieber Franz, lieber Klaus-Peter,
oh je, da fühle ich mich ja direkt angesprochen als (dilettantisch) philosophierender Physiker!
Einverstanden: Der Formalismus der Quantentheorie hat sich als Werkzeug zum Bau hochkomplexer technischer Geräte unglaublich gut bewährt. Meines Wissens gab und gibt es aber viele erfolgreiche Praktiker, die eine rein "instrumentalistische" Deutung vertreten (zu unterscheiden also Formalismus und Deutung der Theorie): " Als Werkzeug, ja, als Beschreibung einer 'Wirklichkeit'?, Nein!"
Schön, dass der Zeilinger nicht dazu gehört - und sogar persönlich bekannt ist. Hat mich immer riesig interessiert, was der da in seinem Labor zaubert. Andere vielleicht auch?
Ein Anschlag auf Franz: Könnten wir nicht mal einen Abend machen, an dem du uns Laien und Halbgebildete in diese Experimente einführst? Sicher gibt's jede Menge Youtubes zur Vorbereitung.

Noch ein anderer Nachgedanke zum Diskussionsthema des letzten Abends: Ich wagte das Bonmot, dass die Physiker keine Philosophie brauchen, um auf ihre Ergebnisse zu kommen; erst nachträglich, bevorzugt in ihrem Altersrückblick, basteln sie sich etwas Passendes zurecht.
Das stieß auf spontanen Widerspruch - was ja ein Balsam wäre für die Selbstachtung der Philosophen: Ohne uns keine Physik! - Meine Gegenthese wollte nun nicht ihre Missachtung ausdrücken, sondern nur konstatieren: Sobald wir sprechen und denken, müssen wir halt auch philosophieren, d.h. gedanklich ordnen und Grenzen ausloten. Manchmal kommt dabei halt ein Heidegger heraus oder ein Meinong ("Ich denke - aber bin ich?", das hat mir immer sehr imponiert.)

Ferdinand


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08.10.2021 18:15
avatar  Archimedes ( Gast )
#7
Ar
Archimedes ( Gast )

Lieber Ferdinand,

mit Deinem Meinong-Zitat („Ich denke – aber bin ich?“) hast Du in meinen Augen den Ball für einen völlig unsachlichen aber umso unterhaltsameren Kommentar geradezu vor das Tor gelegt, und ich sollte aber kann kaum widerstehen, den Ball ins Tor zu schießen: „Ich denke, also bin ich hier falsch!“ … mein unsachlicher, polemischer aber von Herzen kommender Kommentar zu allem, was von Heidegger stammt. Ich hoffe, Du verstehst mich (nicht falsch)?


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09.10.2021 12:47
avatar  Gast
#8
Ga
Gast

Oh, bester Archimedes, ich ahne, welches und wessen Tor das ist, ein Verstehen ist das freilich noch nicht. Ich bin versucht, weiterzuspinnen: "Ich bin hier falsch, also wandere ich aus in den Kanton Thurgau!" ... - Nein, das ging ins Abseits. Lassen wir es dabei.
Nun, beim Unterschreiben, werde ich wieder mit voller Wucht auf das Existenzproblem zurückgeworfen: Ich denke, aber wer bin ich: Uhu? Gast? Ferdinand?


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09.10.2021 13:55
avatar  Archimedes ( Gast )
#9
Ar
Archimedes ( Gast )

Oh, lieber Ferdinand, jetzt könnten wir, ausgehend von Deiner letzten Frage, eine sicher nicht uninteressante Diskussion über die Lehre von der Dreieinigkeit beginnen. Das ist aber, wie ein Blick in die Google-Ergebnisse zum Stichwort „Trinität“ zeigt, seit Jahrhunderten ein stark vermintes Feld. Und außerdem gibt dieses Thema für den Humanismus wohl kaum etwas her.

Ein schönes Wochenende wünscht Dir
Archimedes


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