Leseempfehlung: Rutger Bregman, "Im Grunde gut"

24.07.2021 20:42 (zuletzt bearbeitet: 24.07.2021 20:46)
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Leseempfehlung:

Rutger Bregman, “Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ (ca. 350 S./ dt. 2020)

Das niederländische Original “De Meeste Mensen Deugen“ (= taugen etwas) erschien 2019, das englische eBook, aus dem ich hier zitiere, ebenfalls 2020 (“Humankind – A Hopeful History“) - und kostet nur 6 Euro.

Der junge niederländische Historiker (*1988) hatte mich schon mit seinem ersten Bucherfolg vor drei Jahren verblüfft, “Utopien für Realisten“ war der deutsche Titel. Vielleicht erschien mir aber seine vor allem ökonomisch begründete Empfehlung, allen Menschen ein Grundeinkommen auszuzahlen und die Grenzen für Einwanderer zu öffnen, angesichts unserer allbekannten menschlichen Natur doch etwas zu unrealistisch.
In seinem neuen Buch geht es ihm nun um eben diese unsere 'Natur', die biologischen Voraussetzungen des Sozialverhaltens unserer Gattung Homo Sapiens. Wir kennen ja diese Sprüche: “Lass uns realistisch sein: Im tiefsten Innern sind wir doch alle Egoisten!“ Bregman versucht uns zu überzeugen, mit einer grossen Zahl überraschender Beispiele und Forschungsergebnisse, dass wir es hier viel mehr mit einer bequemen Ideologie zu tun haben als mit Realismus.

Ein Beispiel, das mich besonders beeindruckt hat, sind im 8. Kapitel die berühmten Versuche von Stanley Milgram Anfang der sechziger Jahre. Ein Film darüber gehörte zu meiner Zeit in West-Berlin zur Lehrerausbildung, die Botschaft, die ich mitnahm, war: Befiehlt man einem beliebig ausgewählten ‘Mann von der Strasse’ (ich glaube, es waren wirklich nur Männer) aus scheinbar triftigen Gründen andere Menschen zu quälen, dann tut er das unbedenklich. So sind wir eben, wir Menschen… (Als Lehrer hätten wir dann vielleicht die Aufgabe gehabt, etwas Erziehungslack über diesen bösen Untergrund zu streichen.)
Eine genauere Analyse der Versuchsunterlagen, die Bregman vorlegt, zeigt, dass diese Deutung sehr übertrieben, wenn nicht gar falsch ist. Die damals veröffentlichten Ergebnisse muss man heute als hochgradig ‘frisiert’ bezeichnen: der Zeitgeist wollte sie so. Auch andere ‘wissenschaftliche’ Versuche ähnlicher Art werden angeführt und entmystifiziert.
Wenig später (1976) erschien Richard Dawkins’ “The Selfish Gene”… Bregman macht es sich hier m.E. etwas zu leicht mit seiner Ablehnung: Ein ‘selbst-bezogenes’ Reproduktionsverhalten der Gene (wie sollten sie auch anders ticken?) impliziert doch noch kein egoistisches Sozialverhalten der nach ihrem Bauplan aufgebauten Lebewesen. Aber die Assoziation lag nahe, da gebe ich Bregman Recht, und sie war auch von Dawkins so gewollt. Der Zeitgeist eben; in der Politik triumphierte fast zeitgleich der Neoliberalismus mit seinem Idealtyp des Homo oeconomicus, der nur sein Eigeninteresse verfolgt, allenfalls noch das seiner nächsten Verwandten.

Falsch, sagt Bregman, “Homo puppy” wäre viel angemessener. Wie das?
Bregman referiert ausführlich Langzeitversuche zur Domestizierung von Silberfüchsen, bei denen über viele Generationen vom Züchter nur das Merkmal der “Freundlichkeit” (friendliness) selektiert wurde. Ergebnis: sie wurden (natürlich) zahmer, zugleich aber auch verträglicher untereinander, messbar lernfähiger und dabei von Generation zu Generation den Jungtieren ähnlicher, wie“puppies” eben, verspielte junge Hunde.
Dass es einen solchen “Pädomorphismus” (eine Kindähnlichkeit) im Vergleich zu anderen Hominiden auch beim Sapiens gibt, war schon länger aufgefallen. Sollten auch die übrigen bei der Domestikation festgestellten Eigenschaften damit einhergehen? Gab es in unserer Evolution also eine Phase, in der die freundlicheren, kooperativeren Stammesgenossen mehr Nachkommen produzierten und durchbrachten, kurz, in der ein survival of the friendliest galt? Das ist die faszinierende These, nicht nur von Bregman. Er zitiert mehrere Befunde, die sie stützen, nicht genug aber, fürchte ich, um auch die grosse Dawkins-Gemeinde zu überzeugen.

Natürlich entgeht auch einem Zweckoptimisten wie Bregman nicht, wieviel Grausamkeit und Gewalt es unter uns Menschen gab und gibt, trotz möglicherweise angeborener Kooperations-bereitschaft. Für einen Grossteil davon kann er zeigen, dass es sich um Übertreibungen und Verfälschungen handelt: unsere bekannte Schwäche für katastrophale Nachrichten.
Und die Abertausenden von Soldaten, die sich gegenseitig niedergemetzelt haben in den Kriegen? Bregman zitiert Befunde, dass die meisten von ihnen lieber danebenschossen oder -schlugen, wenn sie unbeobachtet waren.
Aber es bleiben natürlich immer noch zu viele Gewalttätige übrig: Psychopathen, zum Töten Abgerichtete, ideologisch Verblendete (“Was du da tust, geschieht zum Wohl der Menschheit - dem eigentlichen, dem richtigen Teil von ihr!” - ein Appell an die Bereitschaft zur Kooperation. ) Alles das wären für Bregman Kollateralschäden unserer sesshaften und den Privatbesitz kultivierenden Lebensweise seit zehn- oder fünfzehntausend Jahren: die uns schon bekannte These von der “grössten Dummheit in der Geschichte der Menschheit”…
Und vorher? Alles Friede-Freude-Eierkuchen in der langen, uns prägenden Periode der nomadischen Jäger und Sammler? Ja, laut Bregman - aber nun muss er sich auseinandersetzen mit einem anderen Verkünder unserer “besseren Natur”, mit Steven Pinker und seinem bekannten Werk aus dem Jahr 2011, “Gewalt - Eine neue Geschichte der Menschheit”. (So der deutsche Titel; für deutsche Leser wird die ‘Geschichte der Menschheit’ offenbar ständig neu geschrieben.) Ich habe nur den Anfang gelesen und glaubte den Rest gerne; die Vorstellung einer über die Jahrtausende ständig fallenden menschlichen “Totschlags-Kurve” ist einfach zu wohltuend.
Die Gewaltbereitschaft müsste dann aber unter den Ur-Horden besonders gross gewesen sein - und Bregman zerpflückt tatsächlich alle Argumente, die Pinker dafür anführt.
Ab dem 2. Kapitel (auf S. 45, die Kapitelzählung hinkt hier in beiden Übersetzungen) ordnet er das Anliegen seines Buchs in den Wettstreit zweier Altmeister der neuzeitlichen Staatsphilosophie ein, Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau: Brauchen wir den starken Staat, vielleicht sogar eine Leviathan-Diktatur, um das böse Wildtier in jedem von uns zu zivilisieren - oder ist es, wie Rousseau meinte, genau umgekehrt und die vermeintliche Zivilisierung hat uns erst böse gemacht? Bregman plädiert klar für die zweite These und überzeugt mich, dass wir sie wieder ernster bedenken sollten, nachdem wir jahrelang, nein, Jahrhunderte lang Rousseau als Natur-Romantiker belächelt haben. Der Hobbes’sche Pessimismus ist ja nicht nur in unserer repräsentativen Demokratie tief verankert, sondern ebenso oder mehr noch in den real-sozialistischen Staatsformen.

Das sind nur einige von den Denkanstössen, die ich in diesem Buch gefunden habe. Es fehlt auch nicht an Anregungen, wie wir das wiederentdeckte Gutmenschen-Potential in uns fruchtbar machen können. Das Werk ist gut lesbar und unterhaltsam geschrieben; einige Argumente möchten vielleicht genauer recherchiert und diskutiert werden (“zu schön um wahr zu sein”?), aber das ist ja kein Nachteil, im Gegenteil …

Juli 2021, Ferdinand


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