Pazifismus - Wäre eine gewaltfreie Welt aus humanistischer Sicht möglich?

25.07.2021 17:31 (zuletzt bearbeitet: 25.07.2021 22:37)
#1
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Eine systematische Betrachtung zum Thema "Pazifismus"
Zwingt uns unser Humanismusverständnis nicht zur Gewaltfreiheit?

Systematischer Zugang wäre z.B. die Einigung auf rein physische Gewalt, die Gewalt durch Sprache oder andere Mittel sei ausgeklammert.
Systematisch auch dadurch, verschiedene Kontexte sich vorzunehmen und die Frage nach der Gewaltfreiheit durch zu denken:
- Gewalt durch staatliche Armeen, Krieg zwischen Staaten
- Gewalt durch Kriminelle
- Gewalt gegen Kinder

Systematisch durch die Zusatsfrage: "Was würde passieren, falls kein Mensch mehr Gewalt durch Gewalt antwortet?" Und dies z.B. in dem Kontext des Staatsaggressors, d.h. ein anderer Staat überfällt unser Land mit seiner Armee.

Und abschließend systematisch durch das Zusammentragen von Gedanken von Pazifismusexpertinnen, Literaturhinweise etc.


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26.07.2021 19:03 (zuletzt bearbeitet: 26.07.2021 21:17)
avatar  bob
#2
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bob

Zwingt uns unser Humanismus-Verständnis zur Gewaltfreiheit?

Danke, Holger, für die Anregung.

Ich wuchs in einer Militärfamilie auf. Ich trainierte schon als Kind mit den Soldaten am Fitness-Übungsplatz. Und trotzdem: Ich war ein 68er, begann damals mein Engagement gegen den Vietnam-Krieg. Ich war überzeugt von der Gewaltfreiheit von Mahatma Ghandi und Martin Luther King. Ich hielt 1968 eine Rede an meiner Schule gegen den Vietnam-Krieg und gegen Krieg überhaupt. Ich fing 1969 an der Technischen Universität von Virginia an und engagierte mich sofort in der Antikriegsbewegung. Ich war Wehrdienstverweigerer und organisierte Aktionen gegen den Wehrdienst und den Krieg.

Das ist der Hintergrund, den Leser brauchen, um folgende Anekdote zu verstehen. 2015 war ich mit drei Frauen in Bonlanden (BW) unterwegs. Wir gingen auf ein Haus zu, in dem ein ehemaliger Schulkamerad von einer der Frauen wohnte. Von links kam ein Schäferhund auf uns zu gerannt. Ich schaute ihn an und bewertete ihn als harmlos. Doch er rannte direkt auf mich zu. Knapp vor mir drehte er scharf nach rechts und sprang eine der Frauen an. Ich drehte mich spontan mit ihm, packte ihn am Kragen, und hob ihn über meinen Kopf. Es war im letzten Bruchteil einer Sekunde, denn er warf diese Frau um und sie bezeugte später, dass er sie ins Gesicht oder in den Hals gebissen hätte. Sie konnte schon seinen Atem riechen. So weit nichts Außergewöhnliches für einen alten Cowboy. ;-)

Aber hier kommt die Essenz. Ich hatte in meinem Kopf ein genaues Bild von einem Holzzaun 180° hinter mir (der mir gar nicht bewusst aufgefallen war). Mir war klar, dass ich mich drehe und diesen Hund auf einer spitzen Latte durch das Unterkiefer direkt ins Gehirn aufspießen werde. Ich war schon gedreht, war auf Fußspitzen gestreckt mit dem Hund über meinem Kopf, und wollte ihn mit voller Wucht auf eine Latte zwingen. Der Hund hatte keine Chance.

Aber dann, mitten in der Einwegbahn, hat sich der Hund total entspannt. Das musst du dir so vorstellen, als wenn eine Hündin einen Welpen am Kragen hebt – kein Widerstand. Ich habe meine Bahn simultan gewendet und setzte den Schäferhund fest auf den Boden und hielt ihn mit Händen und Knien, bis ihn sein Besitzer holte.

Klar, wenn ich nicht interveniert hätte, wäre das sehr unschön ausgegangen; auch so waren zwei Frauen leicht verletzt (die eine fiel rückwärts auf die andere). Doch die Erkenntnis, dass ich in der Lage bin, zu töten, hat mich lange verfolgt, und ich merke das Trauma jetzt noch, während ich schreibe. Das passte nicht in mein Selbstverständnis als gewaltfreier Mensch.

Der Instinkt hatte die Kontrolle übernommen. So schnell hätte ich sonst nicht reagieren und dann korrigieren können. Ich war der Stier, der seine Herde gegen den Wolf verteidigte. Das Tier im Menschen kam zum Vorschein. Als der Wolf aufgab, musste ich ihn nicht mehr töten. (Als der Besitzer mich dann noch anmaulte, habe ich es mir allerdings nochmal überlegt.) Alles Instinkt.

Was ist das Fazit? Jeder Mensch kann töten? Instinkt hat Vorrang? Humanismus zwingt uns zu gar nichts, aber er hebt uns auf eine Ebene, auf der wir mit allen Mittel die Gewaltfreiheit anstreben können. Das ist schon viel.


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27.07.2021 16:58
avatar  Uhu
#3
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Uhu

Mich hat dieser Beitrag sehr berührt und ich fühle mich doppelt aufgefordert, nein, dreifach, darauf zu antworten.

1) Als ich gestern in die Videokonferenz kam, hatte ich ihn gerade gelesen, als einziger wohl, wollte darauf hinweisen, ohne genauer davon zu erzählen. Es ist ja für sich schon eine spannende Story, es wäre schade, da den "Spoiler" zu spielen. Vielleicht ist das missverstanden worden als Distanzierung? Das genaue Gegenteil ist der Fall.
2) Beim Lesen musste ich sofort an das Bregman-Buch denken (siehe meine Besprechung bzw. Leseempfehlung dazu): Gäbe es also doch einen solchen Tötungsinstinkt, die Bestie in jedem und jeder(?) in uns? Vor der Bregman-Lektüre hätte ich das vielleicht geglaubt. Der von Bob geschilderte Fall wäre genauer zu analysieren.
Persönlich kenne ich nur die Erfahrung innerer Wut oder Empörung: "Ich könnte den (oder die!)...", mehr dann aber nicht.
3) Natürlich bietet sich jetzt das Pazifismus-Thema doppelt an für eines der nächsten Treffen - AUCH in Hinblick auf die Wahlen. Ich werde es gleich vorschlagen bzw. unterstützen.

Ferdinand


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29.07.2021 10:31
avatar  humano
#4
hu

Ich kann kein Pazifist sein.

Am 11. Juli haben wir uns an das Massaker von Srebenica erinnert.
In einer Woche wurden 8000 Bosnien vom serbischen Militär ermordet, die niederländischen Blauhelme schauten zu.
https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Srebrenica

Von 1992 bis 1996 wurde die Stadt Sarajevo von der Jugoslawischen Volksarmee JVA mit Granaten beschossen und ausgehungert.
das schreibt der Schriftsteller Dzevad Karahasan in Tagebuch der Aussiedlung.
Die Welt schaute zu.
https://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Sarajevo

Das sind nur zwei Beispiele von vielen.
humano


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29.07.2021 14:14 (zuletzt bearbeitet: 29.07.2021 14:18)
#5
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Friedenssicherung ist ein äußerst komplexes Problem, weil der Friede ein grundsätzlich instabiler Zustand ist, dessen Stabilitätsbedingungen nicht vollständig bekannt und zudem Änderungen unterworfen sind. Wir können nur hoffen, dass die Mächtigen dieser Welt durch wirklich kluge Menschen beraten werden. Dem Anschein nach ist das seit dem Ende des 2. Weltkrieges zunehmend der Fall. Das stimmt mich vorsichtig zuversichtlich, „optimistisch“ wäre übertrieben.

Eine wichtige Vorbedingung für den Bestand des Friedens (oder zumindest für die regionale Begrenzung militärischer Operationen) scheint die grundsätzliche Unberechenbarkeit der Situation zu sein. Keiner der Akteure darf den Eindruck haben, er könne sich ausrechnen, wie andere Akteure auf seinen Angriff reagieren.

Wie ist vor diesem Hintergrund eine fundamental-pazifistische Position zu beurteilen?


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