Welche Rolle spielen die Wissenschaften im Humanismus?

29.07.2021 16:36
#1
Ch

Eigentlich wollte ich selbst ein Thema vorschlagen, aber mein Vorschlag fügt sich m.E. gut in das von Wolfgang vorgeschlagene Thema ein. Ich beziehe mich hier aber ausschließlich auf die Naturwissenschaften.
Mir geht es um einen Satz, der beim letzten Treffpunkt gefallen ist, und der mich zwar nicht überrascht, aber erschreckt hat.
"Im Prinzip ist alles messbar."
Ich weiß auch noch, wer ihn geäußert hat, aber es geht mir nicht um Persönliches. Die Person kann sich gerne bei mir melden, ich bin zur Diskussion bereit (nur jetzt ein paar Tage ohne Internetverbindung).
Vielmehr drückt (für mich) dieser Satz eine Weltsicht aus, die ich für eines der großen Probleme halte, die mit dem Erfolgszug der Wissenschaften über die Menschheit hereingebrochen sind. Ich hatte das bereits beim Treffpunkt erwähnt.
Messen bedeutet stets Reduktion.
Denn beim Messen können, per definitionem, nur Quantitäten erfasst werden. Wenn man nun die These aufstellt, alles sei prinzipiell messbar, dann heißt das entweder es gibt nur Quantitäten, oder alles Nicht-Quantitative sei jedenfalls bedeutungslos.
Ich behaupte nun, dass es (1) Nicht-Quantitatives tatsächlich gibt, nämlich Qualitatives, und dass es (2) eben die Qualitäten sind, welche die Welt zu etwas Wertvollem machen. Wenn das aber stimmt, dann ist jene (übrigens totalisierende) These zutiefst reduktionistisch. Und das wäre dannn ein echtes Problem für die so populäre "wissenschaftliche Weltsicht", denn alleine in ihr zu verbleiben würde dann vielleicht bedeuten, echte Chancen auf Veränderung zu verpassen. Das meinte ich beim letzten Mal, als ich sagte "den Teufel mit dem Beelzebub austreiben". Der Klimawandel z.B. ist nicht nur menschengemacht, sondern gemacht von Menschen, die gelernt haben, die Natur per Wissenschaft auszubeuten.
Zur Begründung meiner beiden Thesen möchte ich nicht wieder die sog. Qualia, also die bewussten, subjektiven Erlebnisinhalte, anführen. Denn es bestreitet in der Runde wohl niemand mehr, dass etwas Wesentliches fehlt, wenn man auch von den Bewusstseinsinhalten irgendeines Wesens noch so viele "Daten" hat. Sondern ich nehme zur Veranschaulichung ein viel einfacheres Beispiel. Zur Zeit sind ja wieder olympische Spiele. Ich selbst interessiere mich nicht für Sport, aber es scheint mir offensichtlich, dass es für Sportfans da "mehr" gibt, als nur die Ergebnisse der Wettbewerbe. Gerade lese ich, dass Jessica von Bredow-Werndl gestern, am 28.07., Gold im Dressurreiten geholt hat. Menschen, die sich dafür interessieren, vielleicht selbst Sportreiter*innen sind, werden sich z.B. dafür interessieren, wie sie dass denn gemacht hat. Wie geht sie generell mit den Pferden um, in welcher Verfassung war das ihre am Wettkampftag, in welcher sie selbst, wo genau waren die Schwierigkeiten etc. Es scheint mir offensichtlich, dass zur Beantwortung dieser Fragen die Sprache der Mathematik nicht ausreicht. Zum Beispiel könnte die Reiterin etwa sagen: "Ich hatte am Vortag ein gutes Bauchgefühl, ich wusste einfach, dass es klappen wird!" Und es scheint mir ebenso offensichtlich, dass solche qualitativen Aussagen etwas Wesentliches über das Ereignis erzählen, und zwar das, was es eigentlich (in irgendeiner Weise) wertvoll macht.


 Antworten

 Beitrag melden
29.07.2021 17:39
#2
Ch

Ich gehe sogar noch weiter, und beziehe mich dabei auf die beiden Texte, die Wolfgang bei der Vorstellung des Themas eingestellt hat.
Zum Einen die Besprechung Naturalistischer Humanismusvon Bernd Vowinkel des Buches Die neuen Humanisten, Wissenschaft an der Grenze von John Brockman. Ich finde den Versuch sympathisch, die Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften überbrücken zu wollen. Und auch, dass die Besprechung endet mit dem Plädoyer, dass sich "die Naturwissenschaften vom extremen Reduktionismus" verabschieden sollten. Dafür habe ich in meinem letzten Beitrag ja argumentiert. Jedoch lässt die Besprechung (und daher vmtl. ebenso das Buch) einen ganz zentralen Aspekt außer Acht.
Der stößt mir etwa auch auf, wenn ich z.B. bei Metzinger von einer (Natur-)Wissenschaft lese, die "frei von Dogmatik" sei.
Ich behaupte im Gegensatz dazu:
Jede Naturwissenschaft ist notwendig dogmatisch.
Denn es gehört ja gerade zur naturwisssenschaftlichen Methode, dass sie nur empirisch bestätigte (und am besten noch reproduzierbare) Ergebnisse anerkennt. (Die darwinsche Evolutionstheorie erfüllt die Reproduzierbarkeit nicht, ist aber trotzdem anerkannt und damit die bekannteste Ausnahme. Aber das soll hier nicht Thema sein. Ich beschränke mich also auf die empirische Bestätigung, und übrigens erkenne auch ich Darwins Evolutionstheorie an.)
Wichtig ist, dass es festgeschriebene, unveränderliche Regeln gibt, nach denen die (derzeitigen) Naturwissenschaften funktionieren. Ich halte es für möglich und wünschenswert, dass sich diese einmal wieder ändern. (Noch Kant hielt z.B. die Biologie nicht für eine Naturwissenschaft, weil er nur die Newtonsche Physik als Naturwissenschaft anerkannte.)
Aber egal, ob die jetzigen Regeln für immer Bestand haben sollten oder nicht: Die Naturwissenschaften werden durch ein menschengemachtes Regelwerk bestimmt. Die "naturwissenschaftliche Weltsicht" nun erkennt nur das als wahr an, was die Naturwissenschaften bestätigen können.
Das aber war gerade eine Musterdefinition für Dogma.
Denn die Satzform meiner Aussage war die folgende:
(1) Es gibt ein menschengemachtes Regelwerk R.
(2) Nur das ist wahr, was über R bestätigt werden kann.
Man setze nun R: = "Wahr ist, was die katholische Kirche sagt."e
Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens schreibt in seinen Exerzitien (dreizehnte Bemerkung der kirchlichen Gesinnung):
"Wir müssen, um in allem das Rechte zu treffen, immer festhalten: ich glaube, dass das Weiße, das ich sehe, schwarz ist, wenn die Hierarchische Kirche es so definiert."
Zum Anderen beziehe ich mich auf den Artikel Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus von Michael Schmidt-Salomon. Ich kann, wie immer bei seinen Texten, nicht viel mit dem Inhalt anfangen. Aber hier erwähne ich nur die eine Stelle, die mich am meisten stört. Er schreibt auf S. 5: "Der Begriff „Naturalismus“ kennzeichnet [...] eine wissenschaftlichphilosophische
Grundhaltung, die unterstellt, dass es im Universum mit „rechten Dingen“ zugeht, d.h. dass weder Götter noch Dämonen noch Gespenster noch Kobolde in die Naturgesetze eingreifen, ja dass alles, was ist, ausschließlich auf natürlicher Basis existiert."
Mein Problem ist, dass er das Ablaufen der Natur nach Naturgesetzen normativ bewertet, indem er schreibt, dass dann alles "mit rechten Dingen" zugehe. Dies setzt voraus, dass es in irgendeiner weise normativ "gut" oder "rechtens" ist, was man in den Naturwissenschaften tut.
Das Problem ist dasselbe wie oben. Er verkennt (wie so viele) die Dogmatik der Naturwissenschaften.
Das letzte Mal war die Rede vom Ideal der Naturwissenschaften, die eine Theorie der Welt zu finden. Das gehört in der Metaphysik übrigens zu den Kriterien des "Realismus" im Gegensatz zum "Antirealismus", der eine Vielzahl von Theorien der Welt zulässt. Aber wichtig ist mir hier nur auf die eindeutige Parallele zwischen der naturwissenschaftlichen/naturalistischen Weltsicht und der katholischen hinzuweisen.
Ich sage: Beide sind dogmatisch. Der eine Gott/ die eine Kirche wird zu der einen Theorie der Welt.
(Das stammt aber nicht von mir selbst: Schon inder Philosophie des 20. Jhdts wurde schon auf die Parallele zwischen Monotheismus und Einheitsdenken in den Wissenschaften hingewiesen; irgendwo bei Adorno oder beim späten Heidegger habe ich es gelesen.)


 Antworten

 Beitrag melden
30.07.2021 02:19 (zuletzt bearbeitet: 30.07.2021 14:25)
#3
avatar

Christoph schreibt:

Eigentlich wollte ich selbst ein Thema vorschlagen, aber mein Vorschlag fügt sich m.E. gut in das von Wolfgang vorgeschlagene Thema ein. Ich beziehe mich hier aber ausschließlich auf die Naturwissenschaften.
Mir geht es um einen Satz, der beim letzten Treffpunkt gefallen ist, und der mich zwar nicht überrascht, aber erschreckt hat.
"Im Prinzip ist alles messbar." Ich weiß auch noch, wer ihn geäußert hat, aber es geht mir nicht um Persönliches. Die Person kann sich gerne bei mir melden, ich bin zur Diskussion bereit (nur jetzt ein paar Tage ohne Internetverbindung).
Vielmehr drückt (für mich) dieser Satz eine Weltsicht aus, die ich für eines der großen Probleme halte, die mit dem Erfolgszug der Wissenschaften über die Menschheit hereingebrochen sind. Ich hatte das bereits beim Treffpunkt erwähnt.
Messen bedeutet stets Reduktion.
Denn beim Messen können, per definitionem, nur Quantitäten erfasst werden. Wenn man nun die These aufstellt, alles sei prinzipiell messbar, dann heißt das entweder es gibt nur Quantitäten, oder alles Nicht-Quantitative sei jedenfalls bedeutungslos.
Ich behaupte nun, dass es (1) Nicht-Quantitatives tatsächlich gibt, nämlich Qualitatives, und dass es (2) eben die Qualitäten sind, welche die Welt zu etwas Wertvollem machen. Wenn das aber stimmt, dann ist jene (übrigens totalisierende) These zutiefst reduktionistisch. Und das wäre dannn ein echtes Problem für die so populäre "wissenschaftliche Weltsicht", denn alleine in ihr zu verbleiben würde dann vielleicht bedeuten, echte Chancen auf Veränderung zu verpassen. Das meinte ich beim letzten Mal, als ich sagte "den Teufel mit dem Beelzebub austreiben". Der Klimawandel z.B. ist nicht nur menschengemacht, sondern gemacht von Menschen, die gelernt haben, die Natur per Wissenschaft auszubeuten.
Zur Begründung meiner beiden Thesen möchte ich nicht wieder die sog. Qualia, also die bewussten, subjektiven Erlebnisinhalte, anführen. Denn es bestreitet in der Runde wohl niemand mehr, dass etwas Wesentliches fehlt, wenn man auch von den Bewusstseinsinhalten irgendeines Wesens noch so viele "Daten" hat. Sondern ich nehme zur Veranschaulichung ein viel einfacheres Beispiel. Zur Zeit sind ja wieder olympische Spiele. Ich selbst interessiere mich nicht für Sport, aber es scheint mir offensichtlich, dass es für Sportfans da "mehr" gibt, als nur die Ergebnisse der Wettbewerbe. Gerade lese ich, dass Jessica von Bredow-Werndl gestern, am 28.07., Gold im Dressurreiten geholt hat. Menschen, die sich dafür interessieren, vielleicht selbst Sportreiter*innen sind, werden sich z.B. dafür interessieren, wie sie dass denn gemacht hat. Wie geht sie generell mit den Pferden um, in welcher Verfassung war das ihre am Wettkampftag, in welcher sie selbst, wo genau waren die Schwierigkeiten etc. Es scheint mir offensichtlich, dass zur Beantwortung dieser Fragen die Sprache der Mathematik nicht ausreicht. Zum Beispiel könnte die Reiterin etwa sagen: "Ich hatte am Vortag ein gutes Bauchgefühl, ich wusste einfach, dass es klappen wird!" Und es scheint mir ebenso offensichtlich, dass solche qualitativen Aussagen etwas Wesentliches über das Ereignis erzählen, und zwar das, was es eigentlich (in irgendeiner Weise) wertvoll macht.

Ich meine, dagegen, was Christoph hier schreibt, kann man wohl kaum etwas sagen, vielleicht nur das eine, dass die schnell in die Diskussion geworfene Behauptung eines Teilnehmers, im Prinzip sei alles messbar, kaum wörtlich so gemeint gewesen sein kann. Ich vermute, dass eigentlich gemeint war, nur inter-subjektivierbare Gegenstände könnten Thema einer sinnvollen inter-subjektiven Diskussion sein, was eigentlich selbstverständlich ist. Wie komme ich auf diese Vermutung? Nun, alles Messbare ist inter-subjektivierbar. Die Umkehrung gilt freilich nicht: Es gibt selbstverständlich nicht messbare aber inter-subjektivierbare Phänomene. So weit so gut.

Jetzt schreibt Christoph weiter:
Ich gehe sogar noch weiter, und beziehe mich dabei auf die beiden Texte, die Wolfgang bei der Vorstellung des Themas eingestellt hat.
Zum Einen die Besprechung Naturalistischer Humanismusvon Bernd Vowinkel des Buches Die neuen Humanisten, Wissenschaft an der Grenze von John Brockman. Ich finde den Versuch sympathisch, die Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften überbrücken zu wollen. Und auch, dass die Besprechung endet mit dem Plädoyer, dass sich "die Naturwissenschaften vom extremen Reduktionismus" verabschieden sollten. Dafür habe ich in meinem letzten Beitrag ja argumentiert. Jedoch lässt die Besprechung (und daher vmtl. ebenso das Buch) einen ganz zentralen Aspekt außer Acht.


Ich frage mich, welcher Naturwissenschaftler mit philosophischer Sensibilität vertritt denn heute noch tatsächlich einen extremen Reduktionismus? Ist es nicht vielmehr so, dass sich längst die Auffassung durchgesetzt hat, einen sog. „programmatischen Reduktionismus“ zu vertreten, der methodisch in den Naturwissenschaften äußerst erfolgreich ist, weil er die Forschungsstrategien sehr positiv beeinflusst? In der Philosophie entspricht dem ein „emergentistischer Naturalismus“, der keineswegs „extrem reduktionistisch“ ist.

Christoph schreibt dann weiter unten:
Die "naturwissenschaftliche Weltsicht" nun erkennt nur das als wahr an, was die Naturwissenschaften bestätigen können.

Ich meine: Leider Falsch! Wahr ist, dass eine naturwissenschaftlich informierte Philosophie Meinungen ablehnt, die mit gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaften unvereinbar sind. Eine „Bestätigung“ durch die Naturwissenschaften (die es nach Auffassung des Kritischen Rationalismus gar nicht geben kann) ist also NICHT Voraussetzung für Anerkennung als Wahrheit (die niemand kennt!), sondern die Falsifikation einer Hypothese (durch Vergleich mit der Realität) hat die Zurückweisung dieser Hypothese zur Folge. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied, der aber vielleicht auf Anhieb gar nicht so leicht zu verstehen ist.
Und das ist das einzige (Meta-)Dogma des Kritischen Rationalismus, der wissenschaftstheoretischen Grundlage aller Naturwissenschaften, dass es KEINE Dogmen gibt!

Die nun folgenden und andere Ausführungen (weiter oben) von Christoph beruhen aus meiner Sicht auf einer Melange von derart vielen Missverständnissen, dass es mir kaum möglich ist, dazu sinnvoll Stellung zu nehmen.


 Antworten

 Beitrag melden
30.07.2021 15:38 (zuletzt bearbeitet: 30.07.2021 19:26)
#4
avatar

Die Titelfrage dieses „Themas“ (d.h. eigentlich dieses Threads), „Welche Rolle spielen die Wissenschaften im Humanismus“, wurde in diesem Thread bisher gar nicht berührt. Deshalb versuche ich hier eine Annäherung an eine Antwort.

Nach meiner Auffassung ist der moderne Humanismus im Grunde eine Emanzipationsbewegung des Menschen aus seiner geistigen Unterdrückung durch falsche Autoritäten wie insbesondere politische Autoritäten (Diktatoren) und weltanschaulich-religiöse Autoritäten (Götter, Priester, Bischöfe, Päpste und Professoren). Der (evolutionäre) Humanismus (https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution%C3%A4rer_Humanismus ) (https://de.wikipedia.org/wiki/Giordano-Bruno-Stiftung ) sucht auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und humanistischer Werte Antworten auf die existenziellen Grundfragen des Menschseins: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist ethisch gerecht?

Die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften üben dabei eine (auf)klärende Funktion aus, indem sie im Sinne eines hypothetischen Realismus, einer evolutionären Erkenntnistheorie und eines kritischen Rationalismus Orientierung geben in einer ansonsten orientierungslos erscheinenden philosophischen Umgebung der Beliebigkeit und des Relativismus.

Selbstverständlich kann die Wissenschaft aufgrund ihrer methodischen Selbstbeschränkung auf das „Objektive“ oder das zumindest „Intersubjektive“, die der entscheidende Grund ihres Erfolgs ist, keine Antworten auf Fragen geben, die wegen ihrer methodischen Selbstbeschränkung einer wissenschaftlichen Untersuchung unzugänglich sind. Damit sind Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens und nach dem ethisch Gerechten durch die Wissenschaft allein nicht zu beantworten.

Die Wissenschaft beschränkt sich bewusst auf die Beschreibung der Realität; sie gibt ausschließlich deskriptive Antworten. Alle normativen, insbesondere ethischen Fragen können durch die Wissenschaft nicht untersucht werden. Es gibt aber „Brückenprinzipien“, denn praktisch relevante normative Fragen stellen sich stets vor dem Hintergrund der Realität. Niemand wird beispielsweise erwarten, dass ein Normadressat (m/w) eine Norm befolgt, deren Befolgung ihm oder ihr naturgesetzlich nicht möglich ist, oder die gegen seine bzw. ihre Menschenwürde verstößt. Der Zölibat oder die Diskriminierung Homosexueller etc. könnten Beispiele sein.

Was fällt Euch noch zu diesem Thema ein?


 Antworten

 Beitrag melden
03.08.2021 00:41
#5
Ch

Danke erst mal an Archimedes für die Antwort! Ich nehme gerne dazu Stellung.

(1) Wenn es, wie Archimedes schreibt, "selbstverständlich nicht messbare aber inter-subjektivierbare Phänomene gibt" (einverstanden), dann gibt es jedenfalls einige nicht messbare Phänomene. Ob die auch noch inter-subjektivierbar sind, soll erstmal keine Rolle spielen. Sie sind jedenfalls real und nicht messbar. Dann aber kann der Satz, der mich beim Treffpunkt erschreckt hat, nämlich, "im Prinzip ist alles messbar", wenn er überhaupt sinnvoll sein soll (also wahrheitsfähig), und außerdem nicht falsch, wohl in der Tat nur noch etwas Triviales aussagen, was, wie Archimedes schreibt, "eigentlich selbstverständlich" ist. Archimedes' eigener Vorschlag nun, "nur inter-subjektivierbare Gegenstände könnten Thema einer sinnvollen inter-subjektiven Diskussion sein", grenzt entsprechend auch an eine Tautologie. Und für eine Tautologie gilt bekanntlich: "Die Tautologie folgt aus allen Sätzen. Sie sagt Nichts." (Wittgenstein: Tractatus, 5.142)

Mag sein, möglicherweise habe ich die "schnell in die Runde geworfene Behauptung eines Teilnehmers" missenterpretiert. Aber im Kontext der Diskussion fand jedenfalls ich es eindeutig, dass gerade von quantifizierbaren Phänomenen die Rede war, und nicht nur unspezifisch von irgendwelchen inter-subjektivierbaren, sonst hätte der Einwurf tatsächlich "Nichts" gesagt.

(2) Ja, es stimmt, folgt man Popper und seinem Kritischen Rationalismus, dann kann es die Verifikation einer Hypothese in der Wissenschaft nicht geben. Da hätte ich genauer formulieren müssen. Das war mir aber nicht so wichtig, da i.m.A. meine These immer noch greift. Denn es ging mir nicht um eine spezielle Regel, sondern um die Regelhaftigkeit als solche. Ich habe ja behauptet, dass Wissenschaft dogmatisch ist, weil sie festen Regeln folgt. Mir ging es um die Historizität der Wissenschaft, und das wollte ich möglichst drastisch verdeutlichen, indem ich eine Parallele zur katholischen Kirche gezogen habe. Die Wissenschaft hat sich natürlich nicht "unabhängig" von kirchlicher Lehre entwickelt, sondern eher "aus ihr heraus".

Meine Formulierung lautete: (R1) "Die 'naturwissenschaftliche Weltsicht' nun erkennt nur das als wahr an, was die Naturwissenschaften bestätigen können." Dann nehme ich nun also zurück und formuliere neu: (R2) "Die 'naturwissenschaftliche Weltsicht' nimmt als Diskussionsgegenstand nur ernst, was nicht prinzipiell falsifizierbar ist, und zwar durch 'Vergleich mit der Realität'."

Ich glaube, dass (R2) ziemlich genau das fasst, was Archimedes vorschlägt. Der "Vergleich mit der Realität" entstammt natürlich der sog. "Korrespondenztheorie" oder "Adäquationstheorie" der Wahrheit, die man normalerweise bis zu Aristoteles zurückdatiert, die aber ihre bekannteste Formulierung bei Thomas von Aquin gefunden hat: "Veritas est adaequatio rei et intellectus", d.h. "Wahrheit ist die Übereinstimmung von Sache und Verstand".

Und damit bin ich ja schon wieder bei den Katholiken.
Den Argumentationsschluss formuliere ich, parallel zu R1 auf R2, entsprechend auch noch um:

(1) Es gibt ein menschengemachtes Regelwerk R.
(2) Nur das wird als Diskussionsgegenstand ernst genommen, was von R nicht ausgeschlossen wird.

In diese Satzform lässt sich sowohl das katholische, wie auch das wissenschaftliche Regelwerk passend einsetzen. Das war der Punkt, den ich machen wollte. Ich bleibe dabei: Die Wissenschaft ist dogmatisch.


 Antworten

 Beitrag melden
03.08.2021 12:42 (zuletzt bearbeitet: 04.08.2021 11:54)
#6
avatar

Auch ich bedanke mich bei Christoph für seine Stellungnahme (#5) und gehe sehr gerne darauf ein, zumal ich ein gewisses Maß an Annäherung zwischen unseren Auffassungen erkennen kann, und weil ich grundsätzlich immer vermute, dass solche Annäherung mit einem (im Idealfall beiderseitigen) Erkenntnisfortschritt verbunden sein könnte.

Christoph bietet folgende Neuformulierung seiner Behauptung R1 (siehe oben) an: (R2) "Die 'naturwissenschaftliche Weltsicht' nimmt als Diskussionsgegenstand nur ernst, was nicht prinzipiell falsifizierbar ist, und zwar durch 'Vergleich mit der Realität'." Nun müssen wir in diesem Stadium der Diskussion auf einen hohen Grad an sprachlicher Präzision achten, um nicht aneinander vorbei zu formulieren. Tatsache ist, dass die empirische Wissenschaft ausschließlich solche Hypothesen „ernst nimmt“, die grundsätzlich (d.h. prinzipiell) falsifizierbar sind. Die grundsätzliche Falsifizierbarkeit ist gerade das entscheidende Kriterium, mit dessen Hilfe man wissenschaftliche Hypothesen von nicht-wissenschaftlichen Hypothesen unterscheidet. Christoph hätte daher wie folgt formulieren müssen und hat vermutlich auch genau dies gemeint: (R2*) "Die 'naturwissenschaftliche Weltsicht' nimmt als Diskussionsgegenstand nur ernst, was prinzipiell falsifizierbar ist, und zwar durch 'Vergleich mit der Realität', was aber bisher nicht tatsächlich falsifiziert werden konnte." Ich vermute, dass Christoph meiner Re-Formulierung R2* seiner Behauptung R2 zustimmen wird.

Wenn Christoph dann weiter behauptet, die Wissenschaft sei (genauso oder vergleichbar) dogmatisch wie die katholische Kirche, dann wird wohl kaum jemand dieser Behauptung zustimmen können. Warum nicht? Es trifft zwar zu, dass auch die Wissenschaft sich selbst Regeln gibt und gegeben hat, deren Befolgung den Wissenschaftlern derart wichtig ist, dass man hier (wenn man will) von „Dogmen“ sprechen könnte. Diese Regeln (die vermeintlichen Dogmen) sind aber ausschließlich methodischer Natur: Hypothetischer Realismus, kritischer Rationalismus, etc.

Im Gegensatz dazu kennt die katholische Kirche neben (sehr zweifelhaften) methodischen Dogmen (Die Bibel ist das Wort Gottes, die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen, etc.), sofern man in der Theologie überhaupt von einer Methodik sprechen kann, die mit der wissenschaftlichen Methodik vergleichbar wäre, eine Vielzahl von faktischen Dogmen wie z.B. die leibliche Himmelfahrt Mariä, die Auferstehung von den Toten, die tatsächliche Wandlung von Wein und Brot in das Blut und den Leib Christi in der Eucharistie, etc., die als Tatsachenbehauptungen, also als deskriptive Behauptungen über die Wirklichkeit eigentlich falsifizierbar sein sollten, die aber in der Regel tatsächlich NICHT falsifizierbar sind, weil sie sich aufgrund ihrer (das „Jenseits“ betreffenden) Inhalte jeder empirischen Falsifikation entziehen, sich also gegen eine Falsifikation immunisieren. Diese Methode der Selbstimmunisierung gegen Falsifikation muss als die eigentliche Methode der katholischen Theologie angesehen werden. Es ist ganz offensichtlich, dass diese „Methode“ NICHT der Wahrheitsfindung dienen kann und offenbar auch nicht dienen soll.

Für die Wissenschaft ist es dagegen typisch, dass ein Wissenschaftler zu jeder neuen Hypothese Falsifikationsangebote macht, d.h. Experimente definiert, mit deren Hilfe eine Falsifikation seiner Hypothese grundsätzlich möglich wäre, falls diese Hypothese falsch sein sollte.

Angesichts dieser Sachlage finde ich Christophs Behauptungen über die angebliche Vergleichbarkeit der Wissenschaft mit der katholischen Kirche einfach nur verwegen.


 Antworten

 Beitrag melden
04.08.2021 21:56
#7
Ch

Danke wiederum für die konstruktive Antwort!
Ja, auch ich nehme eine Annäherung wahr, da wir jetzt auf einer inhaltlichen Ebene diskutieren können. Insbesondere bin ich vollständig einverstanden mit Archimedes' umfomulierung von (R2) zu (R2*). Zuvor hatte ich noch den (vielleicht fehlgeleiteten) Eindruck, ich müsste mich auf der Ebene philosophischer Kompetenz verteidigen. So etwas führt bei mir oft zu einem "Verteidigungsreflex", der mehr als einmal zu einem unguten Gesprächsverlauf geführt hat (bei der Verteidigung meiner Masterarbeit z.B., wo ich mich unnötigerweise persönlich angegriffen gefühlt habe).

Denn in der Tat provoziere ich auch gerne, und wenn Archimedes meine Parallelführung von katholischer Lehre und Wissenschaft als "verwegen" bezeichnet, dann fühle ich mich erst einmal "verstanden" :). Aber freilich habe ich mir die letzten Tage auch Gedanken gemacht, (1) was eigentlich meine philosophischen Einflüsse waren (das war einfach herauszufinden, Hinweis: Popper war es nicht ;p), und (2) was eigentlich Ziel und Zweck meines Angriffs auf die Wissenschaft ist, denn als radikale Wissenschaftskritik war mein ursprünglicher Beitrag natürlich in der Tat gedacht. Und diese halte ich auch für nötig. Man wird sie so nicht in der 'Popper-Schule' finden, da bin ich ziemlich sicher. (3) Schließlich werde ich auch noch speziell auf Archimedes' letzten Beitrag eingehen. Ich denke erstens, dass sowohl aus der wissenschaftlichen, wie auch der kirchlichen Methodik auch eine Ontologie folgt, und daher die beiden Bereiche nicht zu trennen sind. Insbesondere bestreite ich auch nicht, dass die kirchliche Dogmatik keinen Wert darauf legt, falsifizierbare Behauptungen aufzustellen, denn das zu bestreiten, wäre albern. Daher finde ich es aber auch nicht besonders überraschend, wenn das neue Regelwerk (Wissenschaft) bei einer anderen Ontologie ankommt, als das alte (Kirche). Entscheidend ist für mich (Stichwort: Dogma), dass beide als "unumstößlich", oder "letztgültig" daherkommen. Das freilich ist der kritische Punkt meine Argumentation, und er wird (hoffentlich) weiter Widerspruch hervorrufen.

(1) Ich war von Anfang meines Philosophiestudiums bis jetzt maßgeblich von der Spätphilosophie Martin Heideggers beeinflusst. Sie findet sich leider nicht in einem einzigen, geschlossenen Werk versammelt, wie die Fühphilosophie im (allerdings nicht vollendeten) Sein und Zeit, sondern verteilt auf viele Aufsätze und Vorträge. Beispielhaft für Heideggers Wissenschaftskritik sind z.B. sein Vortrag Gelassenheit, oder auch die Aufsätze Was heißt denken? (mit dem vielzitierten und oft missverstanden Satz "Die Wissenschaft denkt nicht"), oder Wissenschaft und Besinnung. Aus dem letzten Titel lässt sich vielleicht erahnen, dass Heidegger christliche Einflüsse hatte. Und in der Tat kommt er von der katholischen Theologie her, die er aber auf sehr originelle Weise überwunden hat, nämlich einmal nicht via Berufung auf die Wissenschaft, sondern konträr zu ihr. Er spricht sich, kurz gesagt, für ein "besinnliches" Denken (ohne Gott) aus, das im Gegensatz steht zum "rechnenden" Denken der Wissenschaft.

Aufgabe des "besinnlichen" Denkens ist es, grob gesagt, zu begreifen, welche Denkart (im Moment gerade und in vorhergehenden Epochen) das Weltbild der Menschen prägt bzw. geprägt hat. Und ich lese Heidegger so, dass er im modernen Zeitalter die sog. "Eigenschaften Gottes" (Allmacht, Omnipräsenz, Allwissenheit) auf die Technik übertragen sieht. Das ist die Wurzel meine Parallelitätsthese zwischen Religion und Wissenschaft. Die moderne Wissenschaft, sagt Heidegger, folgt einer Ideologie der Machbarkeit. Darin folge ich ihm, und würde zum Nachweis Philosophiegeschichte anführen, z.B. Francis Bacon, der gar keinen Hehl daraus machte, dass es in der Naturwissenschaft von Anfang an auch um eine Bemächtigung der Natur ging. Aber Heidegger argumentiert nicht in erster Linie historisch, sondern existenzphilosophisch. Das bedeutet, er geht davon aus, dass wir (als Philosophierende) immer schon von einer grundlegendenden, kulturell geprägten, Einstellung zu Welt ausgehen, hinter die wir niemals zurücktreten können.

[Nebenbemerkung: Ich kann hier leider nicht auf Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus, und seinen (unkritisch den üblichen Mustern folgenden) Antisemitismus eingehen. Ich habe mich auch damit eingehend beschäftigt, zumal mich beides zutiefst abstößt. Aber ich glaube dennoch, dass er in seiner Wissenschaftskritik Entscheidendes zu sagen hat.]

Zurück zum Thema. Ich behaupte also keineswegs, dass meine Thesen in irgendeiner Weise "objektiv" sind, sondern sie entspringen (natürlich) genauso meinem eigenen Lebenslauf, wie der sog. "Sachebene". Heidegger hat i.m.A. wie kein zweiter gezeigt, dass diese Ebenen zumindest in der Philosophie niemals zu trennen sind. Die Wissenschaftskritik, die ich hier anstimme, entspingt einer Leidenschaft, oder besser: ihrem dunklen Pendant, der Verzweiflung über die Dominanz der Technologie in unserer modernen Welt.

Dazu Heidegger 1955 in seiner Meßkirchner Rede Gelassenheit, die zwar das "Atomzeitalter" behandelt, jedoch m.E. auch gut zum "digitalen Zeitalter" passt. Es geht im Kern darum, dass die Technik "nicht aufzuhalten" ist, sich also letztlich dem Zugriff des Menschen entzieht, obwohl er sie ja ursprünglich hervorgebracht hat. Das Zitat ist leider etwas lange, aber ich halte den ganzen Aufsatz für sehr lesenswert, und ich finde ihn auch nicht kostenfrei im Internet.

-----------------------------------------------------------------

"Man nennt das jetzt beginnende Zeitalter neuerdings das Atomzeitalter. Sein aufdringlichstes Kennzeichen ist die Atombombe. Aber dieses Zeichen ist nur ein vordergründiges. Denn man erkannte sogleich, daß die Atomenergie sich auch für friedliche Zwecke nutzbar machen läßt. Darum sind heute die Atomphysik und deren Techniker überall dabei, die friedliche Nutzung der Atomenergie in weitausgreifenden Planungen zu verwirklichen. Die großen Industriekonzerne der maßgebenden Länder, an der Spitze England, haben bereits ausgerechnet, daß die Atomenergie ein riesenhaftes Geschäft werden kann. Man erblickt im Atomgeschäft das neue Glück. Die Atomwissenschaft steht nicht abseits. Sie verkündet öffentlich neues Glück. So haben im Juli dieses Jahrzehnts achtzehn Nobelpreisträger auf der Insel Mainau in einem Aufruf wörtlich erklärt:
'Die Wissenschaft - d.h. hier die moderne Naturwissenschaft - ist ein Weg zu einem glücklicheren Leben des Menschen.'

Wie steht es mit dieser Behauptung? Entspringt sie einer Besinnung? Denkt sie jemals dem Sinn des Atomzeitalters nach? Nein. Wenn wir uns durch die erwähnte Behauptung der Wissenschaft zufriedenstellen lassen, dann bleiben wir von einer Besinnung auf das gegenwärtige Zeitalter so weit entfernt als nur möglich. Warum? Weil wir vergessen, nachzudenken. Weil wir vergessen, zu fragen: Worauf beruht es denn, daß die wissenschaftliche Technik neue Energien in der Natur entdecken und freisetzen konnte?

Dies beruht darauf, daß seit einigen Jahrhunderten eine Umwälzung aller maßgebenden Vorstellungen im Gang ist. Dadurch wird der Mensch in eine andere Wirklichkeit versetzt. Diese radikale Revolution der Weltansicht vollzieht sich in der Philosophie der Neuzeit. Daraus erwächst eine völlig neue Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt. Jetzt erscheint die Welt wie ein Gegenstand, auf den das rechnende Denken seine Angriffe ansetzt, denen nichts mehr soll widerstehen können. Die Natur wird zu einer riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie. Dieses grundsätzlich technische Verhältnis des Menschen zum Weltganzen entstand zuerst im 17. Jahrhundert und zwar in Europa und nur in Europa. Es blieb den übrigen Erdteilen lange unbekannt. Es war den früheren Zeitaltern und Völkerschicksalen völlig fremd.

Die in der modernen Technik verborgene Macht bestimmt das Verhältnis des Menschen, zu dem, was ist. [...]"

-----------------------------------------------------------------

Dieser letzte Satz ist für meine Argumentation entscheidend: Es geht um eine "verborgene Macht", die das jeweils vorherrschende Weltbild auf uns Menschen ausübt. Im kirchlichen Zeitalter schrieb man es "Gottes unerforschlichem Ratschluss" zu, über den Weltlauf zu wachen, heute hält man (halten viele) "prinzipiell alles für messbar", im bereits diskutierten starken Sinne, der wissenschaftlichen Quantifizier- und Berechenbarkeit. (So hatte ich den Satz ja verstanden, und das war der ursprüngliche "Stein des Anstoßes"). Das aber ist, folgt man Heidegger, beides ein Trugschluss. Den christlichen Gott hält er für ebenso tot wie Nietzsche, aber der unbestreitbare Zuwachs an Machbarkeit durch Technik überdeckt deren letztliche UN-Verfügbarkeit. Im Vortrag stand ja wörtlich ein damaliges Glücksversprechen: "Die Wissenschaft [...] ist ein Weg zu einem glücklicheren Leben des Menschen." So etwas ist (für mich) in seiner Pauschalität schier unerträglich, und ich sehe es auf derselben Ebene wie die Paradiesversprechungen des Christentums. Heidegger sagt, und da folge ich ihm, so paradox es klingen mag: Wohin die Technik als Ganze ´sich entwickeln wird, das liegt nicht in menschlicher Hand. (Der späte Heidegger, nach dem verlorenen Krieg, war, wie ich, ein Zukunfstpessimist und im Gegensatz zu seinem früheren Selbst auch ein Kritiker der "menschlichen Autonomie", wie sie die Aufklärung entwarf, und die in seiner Variante die "Eigentlichkeit" des Daseins heißt, zu welcher sich der Mensch noch aktiv entscheiden kann. Das sieht er später nicht mehr so. Wir sind, der späte Heidegger und ich, könnte man sagen, beide "Fatalisten".)

(2) Ziel und Zweck meines Angriffs war also von Anfang an eigentlich nicht "die Wissenschaft", sondern vielmehr ein Aufbegehren gegen die Machbarkeitsideologie, welche sie von Anfang an (seit dem 17. Jhdt) mit sich brachte. (Für mich) schallt diese Ideologie immer noch "von allen Wänden". Ich halte es z.B., wie gesagt, mit Metzinger, beim Klimawandel für "intellektuell nicht mehr redlich, noch Optimist zu sein". Das Thema ist i.m.A. "den Händen des Menschen entglitten". Aber das ist nur eines von ganz vielen Beispielen, als zweites fällt mir Plastikmüll und Übersäuerung der Meere ein. Ich kann mich täuschen, und vielleicht gibt es irgendwann technische Innovationen, mittels derer man diese ganzen "Externalisierungseffekte" wieder "aufräumen" wird. Aber intuitiv scheinen mir die Effekte inzwischen einfach zu gewaltig.
Und, wieder mit Heidegger: Technische Innovationen, welche entstandene Umweltschäden wieder abmildern sollen, entspringen eben derselben Denkweise, wie die Technologien, welche sie erst hervorgebracht haben. Das kommt mir (um noch einmal das Bild zu gebrauchen) ein wenig so vor wie eine Teufelsaustreibung: Der Teufel war (als kulturelles und psychisches Phänomen) leider sehr real, aber es war nicht der Teufel, der von der Kirche ausgetrieben werden musste, sondern es war die Kirche selbst, die ausgetrieben werden musste, bis der Teufel verschwand.
Ich wage die Behauptung, dass die Kirche leichter auszutreiben war, als die Wissenschaft es sein wird...

(3) Einverstanden, die Regeln der Wissenschaft sind nur methodischer Natur. Und ich finde übrigens, Popper hat mit seiner Falsifizierbarkeit ein gutes Kriterium für die Prüfung einer Hypothese für Wissenschaftlichkeit gefunden. Jedoch hätte vmtl. auch Popper keine Probleme damit gehabt z.B. den Satz "die spezielle Relativitätstheorie ist eine vielfach gut empirisch bestätigte Theorie" zu unterschreiben, eben weil sie falsifizierbar ist. Aber das nur nebenbei.
Und ja, die Himmelfahrt / Jungfrauengeburt Mariä, u.ä., sind selbst verständlich Tatsachenbehauptungen. Wie oben erwähnt, ist es auch nicht überraschend, dass sie NICHT falsifizierbar sind, also von der wissenschaftlichen Methodik nicht als ernstzunehmende Hypothesen anerkannt werden. Wenn Archimedes also schreibt, dass sie "eigentlich falsifizierbar sein sollten", dann legt er schon das wissenschaftliche Weltverständnis zugrunde, das er eigentlich verteidigen will. Es wäre noch zu zeigen, warum es besser ist, etwas auf Falsifizierbarkeit zu prüfen, als es einfach zu glauben. Ich denke nicht, dass es hier hinreicht, nur auf den methodischen Charakter der wissenschaftlichen Regeln hinzuweisen.

Denn hier hat, behaupte ich, nur ein "Zeitgeist" den anderen ersetzt. Früher hätte man sich z.B. auf das Unvehlbarkeitsdogma des Papstes berufen können. Und das ist durchaus eine methodische Regel, wie ich finde. Methode: "Frag den Papst!"
(Übrigens finde ich da in unserer modernen Gesellschaft nicht viel Unterschied zur Methode: "Frag die Expert*in"! Ich glaube nicht einmal, dass es noch so etwas wie eine(n) Universalgelehrte(n) geben kann. Nach wie vor gibt es Autoritäten, was das Wissen anbelangt; halt nicht mehr nur einen im Bezug auf Glaubensfragen, sondern ganz viele, im Bezug auf alle denkbaren Wissensbereiche.)

Zugestanden, heute kann man sich prinzipiell die wissenschaftliche Methode "zu eigen" machen. Vorausgesetzt, man hat genug Zeit, Interesse und Vorbildung. Aber selbst dann ist es natürlich nicht möglich, in der ständigen Flut von Forschungsergebnissen alle selbst nachzuvollziehen. Mir selbst, als Einzelperson, ist also die "Wahrheitsfindung" faktisch unmöglich, höchstens vielleicht als Forscher*in in einem ganz speziellen Fachbereich.

Vielmehr scheint mir schon im Begriff "Wahrheitsfindung" die Ideologie, welche ich kritisiere, aufzuscheinen. "Die Wahrheit ist irgendwo da draußen", heißt es bekanntlich vor jeder Star-Trek-Folge. Im Ernst: Wir sind hier wieder zurück beim Einheitsdenken des wissenschaftlichen Realismus. Es gibt da die eine Wahrheit, welcher sich die Wissenschaft Schritt für Schritt annähern muss. Ich bin wirklich kein Popper-Experte, und habe nur zwei Seminare zur Wissenschaftstheorie besucht (nicht mein Fachgebiet), aber auf der Wiki-Seite "Kristischer Rationalismus" finde ich Bestätigung (meine Hervorhebung):

"Trotz der Schlussfolgerung, dass man nie wissen kann, ob man die absolute Wahrheit gefunden hat, hält der Kritische Rationalismus an ihrer Existenz fest und lehnt den Relativismus, also die Abhängigkeit der Wahrheit vom Blickwinkel, ab. Man kann also die Wahrheit gefunden haben und einen wahren Satz aussprechen, aber man kann nicht beweisen, dass er wahr ist. Das trifft für alltägliche Behauptungen ebenso zu wie für die Theorien der Wissenschaft. "
https://de.wikipedia.org/wiki/Kritischer_Rationalismus

Wenn es stimmt, was ich oben geschrieben habe, nämlich dass
(1) wissenschaftliche Forschung immer auch mit Bemächtigung der Natur zu tun hat, und wenn
(2) die Wissenschaft annimmt, dass es "die absolute Wahrheit" zwar gibt, dass man sie aber nie beweisen kann, und
(3) sie folglich weiter und weiter nach ihr suchen wird, dann, ja, dann - wie gesagt, ich provoziere manchmal gerne ;):

Gnade uns Gott!


 Antworten

 Beitrag melden
05.08.2021 20:51
avatar  Uhu
#8
avatar
Uhu

In einem Philosophieseminar in den Sechzigern beschrieb ein älterer Prof. sehr eindrucksvoll einen kurzen Sketch von Karl Valentin. Es war glaubhaft, dass er ihn selbst erlebt hatte, denn obwohl ich den großen Komiker nur aus Filmaufnahmen kenne, sehe ich ihn in der Erinnerung jetzt quasi persönlich vor mir.
Valentin tritt aus dem Dunkel des Vorhangs an den Bühnenrand und sagt beschwörend - und immer mit seiner listig- bekümmerten Miene : "Die Wissenschaft! ... DIE WISSENSCHAFT! ..."
Das vielleicht drei oder vier Mal, dann verschwindet er wieder und lässt das erstarrte Publikum allein...

Will sagen: Wir sollten uns vor Mystifizierungen hüten. Persönlich sehe ich nicht "die Wissenschaft" am Werke, sondern viele emsige Menschen, die systematisch Probleme zu lösen versuchen, die allermeisten von ihnen in bester humanistischer Absicht...

Nichts für ungut! Ferdinand


 Antworten

 Beitrag melden
06.08.2021 09:46
#9
Ch

Danke, Ferdinand, für Deinen versöhnlichen und humorvollen Beitrag!
Ja, der alte Heidegger war nicht nur Nazi, sondern auch Mystiker :).
Das wäre ein guter Abschluss. Ich für meinen Teil bin alles losgeworden, was ich loswerden wollte.


 Antworten

 Beitrag melden
Bereits Mitglied?
Jetzt anmelden!
Mitglied werden?
Jetzt registrieren!