Spannungsfeld zwischen Erkenntnis und eigenem Handeln
Die Leitfrage "Schränken die Wissenschaften die Freiheit des Menschen ein?" ist für sich genommen leicht zu beantworten.
Nein, die Wissenschaften schränken die Freiheit der Menschen nicht ein.
Warum nicht?
Weil ich die Freiheit der Menschen zunächst dahingehend sehe, dass die bedingte Freiheit eines Menschen auf dem Abwägen von Gründen beruht (ja, kommt von Nida-Rümelin). Und die Wissenschaften sind ein System zum gewinnen von Erkenntnissen mit einem hohen Grad an Gewissheit.
Kein Mensch kann heutzutage alle Erkenntnisse der Wissenschaft in sich vereinen, weshalb beim Abwägen von Gründen immer von einem begrenzten Schatz von Erkenntnis auszugehen ist. Dies ist ein Grund für das Nein.
Der zweite Ansatz für das Nein, besteht in der menscheneigenen Fähigkeit, auch unbequeme Erkenntnisse einfach zu ignorieren bei seinen Handlungsentscheidungen (bei einer Entscheidung ist der Abwägungsprozess von Gründen zu einem vorläufigen Ende gekommen).
Zwei Beispiele zur Illustration des Ignorierungspotentials: 1. Klimawandel: Wer von uns hat sein Benzinauto verkauft und erledigt alle Wegstrecken nur noch mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit dem ÖPNV? 2. Gleicher Status aller Menschen: Wer von uns ertappt sich nicht auch dabei, für sich manchmal in Anspruch zu nehmen "Das Hemd ist mir näher als die Hose", sprich ich verhalte mich egoistisch?
Etwas anders sieht es aus, falls wir Fragen nach der Normativität hinzu ziehen. Ich halte es für vertretbar, die normative Forderung zu äußern, dass wir Menschen uns an den gegenwärtigen Wissensstand orientieren sollten.
Und dann können konkrete Forderungen formuliert werden, beispielsweise: Durch die Kenntnis des Klimawandels sollten wir unser Verhalten an der Vermeidung von CO2 ausrichten.
Soweit eine spontane Eröffnung.
Ich erlaube mir, Wolfgangs Gedanken aus der Einladungsmail hierher zu kopieren, um dann auch darauf Bezug zu nehmen:
“Ich persönlich empfinde wissenschaftliche Erkenntnisse aber immer wieder als meine Entscheidungsfreiheit einschränkend, da ich viele Dingen nicht mehr guten Gewissens tun kann, die ich vor diesen Erkenntnissen einfach gemacht habe. Ein konkretes Beispiel: Aus dem Wissen über die aktuelle Situation bzgl. Corona bin ich gestern nicht zum Tanzen gegangen. Hätte ich diese Erkenntnisse nicht gehabt, wäre meine Entscheidung anders gewesen. Wenn ich das so schreibe, stelle ich fest, dass ich mich dazu entschieden habe, das Erkrankungsrisiko zu minimieren. So betrachtet, klingt das schon anders. “
Interpretiere ich Holger und Wolfgang richtig, wenn ich ihre Aussagen wie folgt kondensiere?:
Beide sagt ihr zunächst: “Ja! Wissenschaftliche Prognosen schränken meinen Spielraum von Optionen (Entscheidungsmöglichkeiten) ein." Beim genaueren Hinschauen kommt ihr dann aber zu einem “Nein!‟:
- Wolfgang erkennt, dass die (wissenschaftlich!) verworfene Option (Tanzen gehen) eigentlich keine verantwortbare war. (Engels lässt grüßen: “Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.‟)
- Holger erkennt,
(a) dass wir mit dem Abwägen von Gründen nach bestem Wissen eh nie fertig werden, wodurch dann noch genug Optionen bleiben (außer der einen, die streng genommen die einzige wäre), und
(b) dass es (allzu)menschlich ist, auch die bestbegründete Option aus Egoismus oder Zerstreutheit zu verwerfen. Es bleibt uns immer die Option des irrationalen Verhaltens!
Jetzt möchte ich mein eigenes Beispiel für ein entschiedenes “Ja!‟ vorstellen:
Hüttenwirte in den Bergen beklagen sich, dass an manchen Wochenenden, sobald nur (wissenschaftlich!) “30% Regenwahrscheinlichkeit‟ angekündigt wurde, ihre Gaststuben leer bleiben. Wo wir früher einfach losgewandert wären, den Regenumhang im Rucksack, bleiben wir nun vorsichtshalber zu Hause: Die eigentlich nützliche wissenschaftliche Prognose trifft auf ein (allzu)menschliches Streben, Unlust zu vermeiden und stiehlt uns so eine Option, die wir “früher‟, im Stande der Unschuld, hatten. (Sie enthielt freilich die Möglichkeit, uns kräftig zu erkälten oder gar vom Blitz erschlagen zu werden. Aber ach, was ist das gegen das Behagen, durchnässt in der warmen Hütte zu sitzen und einen Punsch zu schlürfen!)
ABER: Meinten wir nicht etwas ganz anderes, als wir uns dieses Thema vornahmen? Ich denke dabei an folgende aktuelle Frage, die z.B. von querdenkenden Mitmenschen aufgeworfen wird:
“Führt eine einseitige Orientierung der politischen Entscheidungen an den Prognosen evidenzbasierter Wissenschaft nicht zu übertriebener Einschränkung unserer Handlungsfreiheit?‟
Hier kommen wir von der persönlichen auf die politische Ebene (Holger hat den Schritt in seinem letzten Absatz schon angedeutet.) Es scheinen ganz verschiedene Werte-Welten zu sein...
Ferdinand
Nachtrag, nachdem ich Wolfgangs Hinweise im folgenden Post gelesen hatte, fand ich einen gut lesbaren kurzen Artikel dazu, wie einsichtige Risikoabschätzung die Qualität unserer Entscheidungen verbessern kann:
https://www.degruyter.com/document/doi/1...m-2017-0066/pdf
(aus dem von Wolfgang genannten Gigerenzer-Institut stammend)
#3
Ferdinand, vielen Dank für Deinen Beitrag
Ja, ich fühle mich von Dir richtig verstanden.
Dein schönes Beispiel mit dem Wetterbericht löst bei mir ein paar Fragen aus:
Was meinen die Meteorologen, wenn sie von 30 % Regenwahrscheinlichkeit sprechen und was verstehen diese, d.h. die die Tour vermeidenden Wanderer darunter?
Berücksichtigen diese Wanderer in ihrer Wahrnehmung die weiteren Informationen dazu (prognostizierte Regenmenge und Zeitverteilung des Regens über den Tag)?
Dreht es sich um Gewitter am Nachmittag oder um eine bestimmte Wetterlage
Du merkst wahrscheinlich schon, worauf ich raus will: Sind diese Wanderer in der Lage, mit etwas so "einfachen", wie der Wettervorhersage umzugehen oder werden da auf Basis von herausgepickten Informationen (manchmal wenig hilfreiche) Schlüsse gezogen?
Daraus leiten sich ein paar Voraussetzungen für die Erweiterung der Freiheit durch Wissenschaft ab:
- Fähigkeit der Menschen, die relevanten Informationen heraus zu picken (niederschwellig naturwissenschaftliche Bildung)
- Fähigkeit der Menschen, mit Wahrscheinlichkeitsaussagen umzugehen (mathematisch-statistische Bildung)
- Bewusstsein der Menschen, mit Prävalenzen im Denken umzugehen (Risiko des Regnens versus Chance einer schönen Bergtour)
und nicht zu vergessen, vielleicht am einfachsten zu erreichen:
- adressatengerechte Darstellung wissenschaftlicher Informationen, um möglichst gut eine eigen Entscheidung fällen zu können
Mit Einsatz von etwas komplexerer Software könnte ich mit z.B. folgende Darstellung vorstellen:
Für Deine Bergtour morgen von 9-16 Uhr im Gebiet xyz ist zu erwarten, dass bei jeder 3. Tour dieser Art am Nachmittag heftige Gewitterschauer auftreten, ansonsten aber herrliches Wetter sein wird
Für Deine Bergtour morgen 9-16 im Gebiet xyz ist zu erwarten, dass bei jeder 3. Tour dieser Art es zwischen 9 und 11 zu leichten Regen oder Nieselregen kommen wird, ansonsten bedeckter Himmel sein wird
usw.
Meines Erachtens ein schönes Beispiel für eine bessere Darstellung von Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse ist Prof. Gigerenzer und die durch ihn angeregte verbesserte Kommunikation über Vorteile und Nachteile der Krebsfrüherkennung
https://www.weisse-liste.de/export/sites/weisseliste/de/.content/pdf/service/Faktenbox_Prostatakrebs.pdf
Und dieses Beispiel hat dann doch gesellschaftliche Bedeutung.
Heute äußert sich auch Armin Nassehi zumindest teilweise zu der Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse in SZ-plus:
https://www.sueddeutsche.de/meinung/traegheit-praevention-wissenschaft-corona-1.5467461
#4
Die bedenkenswerten Argumente meiner „Vorredner“ erwägend, möchte ich hier mal versuchen, mich dem Thema ("Schränken die Wissenschaften die Freiheit des Menschen ein?") mit einem grundsätzlich philosophischen Ansatz zu nähern. Andere Arten der Annäherung sind bestimmt auch gut möglich.
Mit „Wissenschaften“ sind hier offenbar die Naturwissenschaften oder auch die Realwissenschaften gemeint, also diejenigen Wissenschaften, die sich bewusst methodisch auf den Gewinn von Erkenntnissen beschränken, die Tatsachenaussagen über die (d.h. unsere gemeinsame) Wirklichkeit betreffen. Diese Wissenschaften liefern uns vor allem Wissen über Zusammenhänge der Art „Wenn ich etwas tue oder unterlasse, dann tritt eine bestimmte Folge in der Realität ein“, zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, die mehr oder weniger genau bekannt ist. Bekannte Beispiele sind Vorhersagen über die Auswirkungen unserer Entscheidungen auf das Weltklima oder auf die Ausbreitung einer Pandemie. Diese Wissenschaften sagen uns NICHT, wie wir uns entscheiden sollen, sie sagen uns bestenfalls was passieren wird oder könnte, falls wir uns in einer bestimmten Weise entscheiden.
In einiger Übereinstimmung mit dem US-amerikanischen Philosophen John Searle meine ich, dass unsere "Freiheit" (oder das Gefühl unserer Freiheit) in Abwesenheit von Zwängen darin besteht, dass die uns bewussten Gründe, die für bzw. gegen eine bestimmte Entscheidung sprechen, nicht logisch hinreichend sind für diese Entscheidung (d.h. die Entscheidung kann nicht logisch zwingend aus den Gründen abgeleitet werden), weil wir uns trotz dieser Gründe in vielen Fällen anders entscheiden können, als es uns diese Gründe nahelegen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass wir Entscheidungen so gut wie nie allein auf der Grundlage von Tatsachenaussagen treffen (können), weil so gut wie immer unsere persönlichen Werturteile (normative Präferenzen) eine entscheidende Rolle spielen. Das können wir uns gut an den beiden Beispielen (Weltklima oder Pandemie) verdeutlichen.
Für die Suche nach einer Antwort auf die Ausgangsfrage scheint mir nun folgende Hilfsfrage nicht unwesentlich zu sein: Führt eine Zunahme unseres Tatsachenwissens zu einer Steigerung oder Minderung unserer Freiheit oder unseres Freiheitsgefühls? Jetzt kommt es darauf an, welche Freiheit wir haben wollen.
Geht es uns um Freiheit von vermeidbaren Irrtümern, dann scheint die Antwort klar: Je mehr wir wissen, desto seltener werden wir uns irren, unabhängig von unseren anderen Werten.
Geht es uns um die Freiheit von Skrupeln, dann ist die Antwort alles andere als klar, denn dann gibt es klar zwei Arten von Wissen, eines das wir lieber nicht hätten, und das andere, das uns gerade in den Kram passt.
Vielleicht geht es uns aber auch (manchmal) um die Freiheit von Unbequemlichkeiten, oder um die Freiheit von Nachteilen (im Vergleich zu unseren Mitmenschen), oder um die Freiheit von „kognitiven Dissonanzen“, oder eine andere Art von Freiheit, die mir vielleicht gerade nicht einfällt. Wünscht sich nicht jeder von uns eine Welt ohne unlösbare Probleme, Widersprüche, Konflikte? Ist es nicht so, dass unser Gehirn ein Organ zur Minimierung kognitiver Dissonanzen ist, ja dass gerade unsere geistige Leistungsfähigkeit und unser Wohlbefinden wesentlich auf dieser Funktion unseres Gehirns beruhen?
P.S.: Woher kommt das Wort Skrupel? Das Wort Skrupel bezeichnet ein altes Apothekermaß von etwa 1,25 Gramm und kommt vom lateinischen »scrupulus« (Steinchen). Ein Apotheker, der keine Steinchen hatte, konnte nicht exakt arbeiten und war »skrupellos«. (Keine Ahnung, ob das stimmt, aber die Geschichte klingt gut, oder?)
#5
Noch eine Kategorie an Freiheit und Wissenschaft
Wissenschaft inklusive der ihr folgende Technik eröffnet viele Freiheiten, positiver und negativer Art:
Die Freiheit,
- mich gegen Corona impfen zu lassen
- zwischen mehr Verkehrsmitteln zu wählen als zu Fuß bzw. mit dem Pferd / Kutsche
- bewusst über die Anzahl der Kinder zu entscheiden (trotz Ausleben der Sexualität) zu bestimmen
- zwischen Tod durch Krankheit oder Behandlung zu wählen
- ..............
aber auch
- eine technische Waffe einsetzen zu können
- ..............
So sehe ich einige Kategorien, die evtl. getrennt diskutiert werden sollten:
- erweiterte Handlungsfreiheiten durch Erweiterung der Optionen (z.B. die oben aufgezählten)
- erweiterte Verantwortung für die Konsequenzen durch mehr Wissen über diese (z.B. Konsequenzen für die Umwelt)
- erweiterte Verantwortung durch größere Konsequenzen des Handelns (z.B. Waffe statt Faust)
- mehr Freiheiten später durch aktuellen Verzicht
und wahrscheinlich noch mehr oder bessere Kategorien
und manches Wissen würde man wahrscheinlich gerne nicht kennen, um aus einer egozentrischen Position "frei" entscheiden zu können
Diese Problemstellungen betreffen m.E. sowohl Einzelpersonen als auch Menschengruppen bis zur Staatengemeinschaft
Lieber Ferdinand
zu "führt eine einseitige Orientierung der politischen Entscheidungen an den Progenosen evidenzbasierter Wissenschadt nicht zu übertriebener Einschränkung unsere Handlungsfreiheit?"
Ich frage mich, was der Satz ausdrücken will - vordergründig steht da "Einschränkung der Handlungsfreiheit" - ja , ganz böse, klar. Aber der Rest des Satzes ist völlig vage und inhaltslos: Was ist eine "einseitige Orientierung...an den Prognosen ...": Nehmen wir das Wetter: Prognose - Schnee und Eis, die Politik sagt - Winterreifen und -ausrüstung erforderlich. Kann man das auch anders sehen? Ich fürchte, meine Handlungsfreiheit ist eingeschränkt, wenn ich keine Winterausrüstung für mein Auto habe. Ist das jetzt übertrieben? Nein, weil das Leben der Mitmenschen durch mich in Gefahr geraten könnte.
Ist eine Entscheidung nicht immer einseitig - ja/nein, gut/böse. "Alles ist möglich" - ist doch eher ein Wunschtraum. Das gilt ja besonders in der Wissenschaft - außer man setzt hier an und sagt, dass das Ergebnis falsch ist und kann das belegen. Wenn etwas nicht erlaubt, schränkt das meine Handlungfreiheit ein - ob das überbetrieben ist, ist eine Frage der persönlichen Bewertung. Frage: Wie frei kann meine Handlung sein? Bis zur Beschränkung der Freiheit für andere usw. Sehr weit kommt man mit diesem Satz nicht - inhaltsleer und auf "Krawall" aus - der Bürger ohne Handlungsfreiheit. - auf zur Demo, Chemnitz ist ja nicht so weit.
Xerxes
Liebe(r) Xerxes,
gerne bemühe ich mich um eine Klarstellung:
1) Ich wollte die Frage ja bewusst aus dem Blickwinkel eines "wissenschaftsskeptischen" Mitmenschen stellen (hatte dabei auch an eine konkrete Person gedacht, mit der ich mich manchmal darüber kabbele).
2) Ich wollte gleichzeitig präzisieren, was genau da unter "Wissenschaft" zu verstehen sei, mir blieb das dann auch viel zu schwammig an dem Abend, als wir darüber diskutierten. Ich denke doch, wir meinen hier nur den Ausschnitt aus dem Wissenschaftsbetrieb, der evidenzbasierte Prognosen liefert. Große Teile der Naturwissenschaften (sicher nicht die Kosmologie!), aber auch der Medizin, der Soziologie und Psychologie gehören dazu. Nur diese sollten die politischen Instanzen leiten, wenn sie ihre schwierigen Entscheidungen fällen, nicht wahr? Oder doch nicht nur? Gibt es da noch sowas "Ganzheitliches", was zu kurz kommt, oder auch ein common sense, der sich nicht so leicht validieren lässt?
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