Impulse von Cornelia

28.10.2022 09:01
#1
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Cornelia hat uns liebenswerter weise eine Einführung auf Basis des Zeit-Artikels
https://www.zeit.de/2022/41/die-illusion-der-vernunft-philipp-sterzer-unvernunft
erstellt


Überlegungen zum Thema Vernunft

Johanna Hänsels Überlegungen zum Thema Vernunft vs Unvernunft in der ZEIT vom 6.10.22
wurde zum Anlass genommen, sich dem Thema etwas ausführlicher zu widmen.
Gerne fasse ich einige Gedanken dieses Artikels, der sich auf das Buch von Philipp Sterzer beruft,
kurz zusammen und füge den einen oder anderen hinzu, um die Diskussion zu starten.
Die neurowissenschaftliche Forschung belegt es schon lang, und unser Blick auf die Welt bestätigt
es auf gruselige Art und Weise, der Mensch ist nicht vernünftig.
Aber ich widerspreche der Aussage des Artikels, dass es den „vernunftbegabten“ Menschen nicht
gibt. Selbstverständlich haben wir diese großartige Begabung, wir sind in der Lage, vernünftige,
rationale, reflektierte Entscheidungen zu treffen, aber dafür benötigt unser Gehirn Zeit und Energie.
Kostbare Güter, wenn wir uns die evolutionäre Entwicklung vor Augen halten, in der es entstand.
In einer feindlichen Umwelt war es die vornehmste Aufgabe des Gehirns, seinem Besitzer das
bestmögliche Überleben zu sichern. So hat es sich zu einer Hochleistungsvorhersagemaschine
entwickelt. Es filtert aus einem riesigen Datenstrom von Sinneseindrücken ein vereinfachtes Modell
der/seiner Wirklichkeit heraus, um in Windeseile (ca. 100m pro sec.) vor unerwarteten Situationen
bzw. Gefahren zu schützen. Es lebt sozusagen in der Zukunft, nutzt einen individuellen,
emotionalen „Realitätsfilter“, um auf die Schnelle, seine Hypothesen über den aktuellen Stand der
Dinge zu präsentieren und adäquate Handlungen vorzubereiten. Gutes Beispiel dafür sind
Tennisspieler, die sich diese Fähigkeit zu nutze machen. Sie ahnen die Flugbahn des Balls voraus.
Somit wird klar, dass dieser Überlebensmechanismus, der sich die letzten Jahrtausende nicht
verändert hat, zunächst nichts mit der Vernunft zu tun hat. Doch weil auch sie zum individuellen
Überleben notwendig ist, hat sie einen Sitz in unserem Gehirn, im Stirnhirn ( Frontallappen). Diese
Region ist unter anderem für unser soziales Verhalten und unser planerisches, rationales Denken
zuständig. Hier wird in Ruhe abgewogen, welche Handlung für die jeweilige Person am
sinnvollsten, vernünftigsten zu sein scheint.
Das ist ein wichtiger Punkt, der in dem Artikel betont wird.Welche Entscheidungen ich treffe, wie
ich mich in der Welt bewege, ob ich mit ihr klarkomme, hängt davon ab, ob mein Gehirn es schafft,
mich in meinem Umfeld sicher zu verorten. Diese individuelle Überlebensstrategie funktioniert nur
mit klaren Überzeugungen, einem in der Regel vereinfachten Weltbild, das stark beeinflusst ist/wird
vom Umfeld, der Gruppe in der wir aufwachsen bzw. leben. Dieser Realitätsfilter ist der Grund
dafür, dass für jeden die Realität etwas anders aussieht. Ist ein Weltbild einmal etabliert, nimmt es
Fakten, die nicht in das eigene Erfahrungsmodell passen, viel schwerer wahr, kann sie nicht
verstehen oder lehnt sie ab. Das von Johanna Hänsel angeführte Beispiel der infizierten Impfgegner,
die erst auf der Intensivstation nach dem Impfstoff verlangten, den sie vorher verhöhnten, zeigt
eindringlich, wie gefährlich ein festgefahrenes Weltbild sein kann.
Doch Glücklicherweise ist unser Gehirn lernfähig. Gemachte Erfahrungen, Informationen und neu
gewonnene Erkenntnisse können unseren Gefühls-und Denkapparat im Kopf verändern. Man nennt
das Neuroplastizität. Wir können lernen, unsere spontan empfundenen, liebgewonnenen,
„Wahrheiten“ zu hinterfragen, uns aktuellen Begebenheiten durch reflektierte Denkprozesse
anzupassen. Leider ist diese wunderbare Eigenschaft abhängig davon, womit wir uns beschäftigen,
wie irrational oder rational unser Umfeld ist, welchen Geschichten wir glauben, welche
Informationskanäle wir nutzen usw.
Letztlich hat niemand DIE REALITÄT je komplett erkennen können, daher ist es meiner Meinung
nach eine gute Idee, sich eine gehörige Portion Skepsis zu bewahren, den Positionen der anderen
gegenüber und den eigenen, denn vielleicht ist das, was wir als unvernünftig empfinden, für unser
Gegenüber vernünftig, und wahrscheinlich wäre so manche Innovation nicht zustande gekommen,
wenn der Erfinder keinen Mut zur Unvernunft gehabt hätte.


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28.10.2022 09:46
#2
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Liebe Cornelia, vielen Dank für Deine kurze Einführung

Der Text in der Zeit scheint sich in wesentlichen Punkten nicht mit den Aussagen des vor kurzem erschienen Buches zu decken. Deshalb möchte ich für unsere Teilnehmenden am TPH noch zwei weitere Quellen vorschlagen, in denen sich der Autor selbst äußert.

dlf
https://www.deutschlandfunkkultur.de/illusion-der-vernunft-warum-wir-so-oft-an-falschen-ueberzeugungen-festhalten-dlf-kultur-5f1dfbfb-100.html

titel, thesen, temperamente
https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/sterzer100.html


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09.11.2022 14:33
#3
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Für diejenigen unter Euch, die etwas tiefer in die Fragestellung eindringen wollen (und über das dazu notwendige mathematische Rüstzeug verfügen) kann ich u.a. zwei Publikationen empfehlen:

https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/An...ender+Netzwerke

https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=...oXOET3PTjJMAt7E

Es gibt noch zahlreiche weitere ... :-)


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