Zwei Buchtipps zu "Vernunft - nur eine Illusion?"

31.10.2022 21:07 (zuletzt bearbeitet: 15.11.2022 19:29)
#1
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Hallo,

nun, einen Titel wählen, der zwar Aufmerksamkeit garantiert, aber auch eine tendenziell dämliche Antwort hinterlassen kann, finde ich stets fragwürdig.
Also, die Vernunft und wie arbeitet das menschliche Gehirn.
Es gibt einmal einen schönen Einblick über das Denken, welches auch viel mit Vernunft zu tun hat. "Die Analogie - Das Herz des Denkens" von Douglas Hofstadter und Emmanuel Sander (2014). Hier wird beschrieben, wie es zu der Wechselwirkung zwischen neuen und bestehenden Informationen im Gehirn kommt. Sehr lesenswert, leider etwas umfangreich (ca. 700 Seiten). Ein durch Beobachtung von Menschen gewonnene Erkenntnis, nicht reduziert auf neurologische Vorgänge. Neurologische Vorgänge sind uns im Alltag nicht zugänglich, weshalb diese Ergebnisse stets stark uminterpretiert werden müssen. Die beiden Autoren sind Kognitionswissenschaftler.
Und einen umfassenden Ansatz zur praktischen Vernunft hat Julian Nida-Rümelin in "Eine Theorie praktischer Vernunft" (2020) dargelegt. Hier sei auf den Ansatz der "strukturellen Rationalität" hingewiesen. Dieser Ansatz besticht u.a. dadurch, dass die unterschiedlichen Zeitverläufe des menschlichen Handelns Eingang findet. Rasch nötige Entscheidungen in Gefahrensituationen unterscheiden sich fundamental von denen, die sich auf Jahre auf mein Leben auswirken (Bsp. Wahrnehmung eines Fahrrads aus dem Augenwinkel oder die Zeugung eines Kindes). Und weiterhin bekannt sollte mittlerweile sein, welche zentrale Rolle Nida-Rümelin den Gründen in Bezug auf Vernunft, Freiheit und Verantwortung einräumt.
Philip Sterzers Buch hätte wohl ehrlicherweise den Titel "Vernunft - Auch eine soziale Angelegenheit" heißen sollen, wie aus dem DLF Beitrag zu hören ist (höre "https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videos/sterzer-video-100.html" 2:30 min).
Was ich gerne von Neurowissenschaftlerinnen erfahren hätte, wäre das Wissen über die Aufwandsvermeidungsstrategien des menschlichen Gehirns. So sehe ich z.B. den Zusammenhang, warum wir Menschen uns an Vorbildern orientieren, nicht nur im Handeln, sondern auch beim Ausbilden von Überzeugungen. Diese Übernahme ohne eigenes tiefgehendes Durchdenken führe ich auf eine Aufwandsvermeidung zurück. Dieses Lernen-durch-Vorbilder ist häufig gut und eben sehr entlastend. Leider kann ich hierzu keine Quelle nennen.
Kennt Ihr welche hierzu?


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01.11.2022 19:54
#2
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Hallo Holger,

danke für Deinen interessanten Beitrag. Du suchst eine Quelle zum Thema Lernen durch Vorbilder? Ein recht bekanntes (und umstrittenes) Buch, das mich sehr beeindruckt hat, ist „Die Macht der Meme oder Die Evolution von Kultur und Geist“ von Susan Blackmore. Bei Ihr läuft alles unter dem Stichwort „Imitation“, was nur ein anderes Wort für Lernen durch Vorbilder ist. Meme sind bei Blackmore imitierbare „Verhaltensmuster“ aller Art, also auch kommunizierbare geistige Schöpfungen aller Art, also z.B. Mode, Umgangsformen, Sprache, Musik, Kunst und natürlich auch technisches Wissen.

Für die Evolution von Kultur und Geist ist dabei wesentlich, dass die Imitation (d.h. die Replikation der Meme) nicht vollkommen fehlerfrei passiert, so wie ja auch die biologische Evolution ganz wesentlich darauf beruht, dass der genetische Code nur fast fehlerfrei kopiert wird. Kreativität ist also in gewissen Grenzen von Vorteil. Und die „richtige“ Mischung aus perfekter Imitation und Kreativität verschafft dem, der sie praktiziert, gesellschaftliche und häufig sogar biologisch reproduktive Vorteile (das kann man überall bei Mensch und Tier beobachten). Aber auch die Meme profitieren in ihrer Ausbreitungsgeschwindigkeit vom sozialen Ansehen ihres (menschlichen) Trägers. Eine sehr interessante, komplexe Wechselwirkung zwischen biologischer, sozialer und kultureller Evolution ist das Ergebnis.


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11.12.2022 23:46 (zuletzt bearbeitet: 12.12.2022 14:13)
#3
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Heute stolpere ich in den Medien zum zweiten Mal an einem Tag und zum ersten Mal in meinem Leben über den Begriff der „kulturellen Aneignung“, offenbar ein neuer modischer Kampfbegriff aus dem Umfeld der political correctness. Mit diesem Terminus sollen bestimmte Formen der interkulturellen Imitation gebrandmarkt werden, wodurch in der Folge kulturelle Inhalte für Angehörige bestimmter Kulturen monopolisiert werden.

Für mich als Patentanwalt ist die Vorstellung, dass Menschen geistige Schöpfungen als ihr Eigentum geschützt wissen wollen selbstverständlich nicht neu, aber mir ist auch bewusst, dass die staatlich geschützten Monopole an „Immaterialgütern“ („intellectual property“) aus gutem Grund häufig zeitlich befristet sind (Laufzeiten von Patenten, etc).

Die Ausdehnung des Eigentumsbegriffs von materiellen auf immaterielle Gegenstände hat nicht nur positive Folgen. Mein Eindruck ist, dass wir mit dem Einzäunen von Claims eher vorsichtig umgehen sollten, um die menschliche Kreativität auch künftig zum Nutzen aller Menschen wirken lassen zu können.


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